Lockeres Denken

21.8.  —
30.8.2015

«Next Generation»


Diplomausstellung Bachelor und Master Institut Kunst HGK FHNW

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Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2015, Foto: Kunsthaus Baselland
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Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2015, Foto: Kunsthaus Baselland
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Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2015, Foto: Kunsthaus Baselland
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Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2015, Foto: Kunsthaus Baselland
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Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2015, Foto: Kunsthaus Baselland
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Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2015, Foto: Kunsthaus Baselland
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Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2015, Foto: Kunsthaus Baselland
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Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2015, Foto: Kunsthaus Baselland
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Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2015, Foto: Kunsthaus Baselland
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Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2015, Foto: Kunsthaus Baselland
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Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2015, Foto: Kunsthaus Baselland
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Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2015, Foto: Kunsthaus Baselland
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Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2015, Foto: Kunsthaus Baselland
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Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2015, Foto: Kunsthaus Baselland
Manuel Schneider Lockeres Denken 2015 2
Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2015, Foto: Kunsthaus Baselland
Sonja Lippuner 01 Lockeres Denken 2015 1
Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2015, Foto: Kunsthaus Baselland

Bachelor- und Diplomausstellung 2015 des Institut Kunst der Hochschule für Gestaltung und Kunst der FHNW mit Arbeiten von: Vera Bruggmann, Denise Fonjallaz, Carla Céline Geissberger Azumi Goya, Mario Grossert, Silas Heizmann, Jorim Huber, Caroline Keller, Sonja Lippuner, Julia Minnig & Jelena Nikolić, Martin Pedersen, Gabriel Salgado, Jérémie Sarbach & Flurina Badel Manuel Schneider, Tobija Stuker, Hanes Sturzenegger, Tanja Weidmann und Elisabeth Zeller.

Es gibt selten die Gelegenheit, Teil eines künstlerischen Prozesses zu werden, der weder gesichert noch abgeschlossen ist, ja, der auch scheitern kann und darf. Die Ausstellung Lockeres Denken — Loose Thinking im Kunsthaus Baselland ist daher eine Chance. Eine Chance für diejenigen, die ausstellen, für die Institution selbst, aber auch und gerade für diejenigen, die sich als Besucher darauf einlassen. Denn Lockeres Denken kommt einem Versprechen gleich. Für einmal wird nicht einer festen Form und Formulierung nachgegangen, wird nicht allein dem Fertigen, Gesetzten, der Behauptung Platz gegeben, sondern gerade dem noch nicht Fertigen —, und somit auch der Möglichkeit zu scheitern.

Die Ausstellung vereint rund sechzig Studierende, die im ersten, zweiten und dritten Bachelor-jahrgang stehen. Rund zwanzig von ihnen schliessen mit den hier gezeigten Arbeiten ihr Studium ab. Die meisten aber be nden sich noch mittendrin, respektive sind ganz am Anfang ihrer Ausbildung. Für mich stellte sich mit der Anfrage für diese Kooperation vonseiten der Leitung des Instituts Kunst der Hochschule für Gestaltung und Kunst FHNW, Chus Martínez, die Frage, ob ein solches An-die-Öffentlichkeit-Gehen in einem derart sensiblen Moment der künstlerischen Ausbildung beziehungsweise des künstlerischen Werdens richtig ist. Ist es für die Teilnehmer eine Chance innerhalb ihrer aktuellen Frage- stellung oder stellt es gar einen Druck im falschen Moment dar? Wird der eine oder andere Besucher nicht vorschnell urteilen über eine Arbeit, die sich als scheinbar fertig gibt und doch mitten im Prozess steht?

Sobald der Künstler oder die Künstlerin mit seinem und ihrem Werk das private Umfeld des Ateliers verlässt, tritt er respektive sie in die Öffentlichkeit und ist dieser ausgesetzt. Man wird Kritik oder Lob erfahren, manchmal beides, wird sich aber auch mit anderen Kollegen, jünger oder älter, und Kulturschaffenden erstmals in dieser Art austauschen können. Vor allem aber wird die Arbeit selbst in dem neuen, noch unbekannten Umfeld einer Institution mit neuen Nachbarschaften von Werken anderer betrachtet werden können und somit vielleicht zum ersten Mal auch vom Künstler oder der Künstlerin richtig gesehen. Eben das kann ein Versprechen sein — die eigene Arbeit richtig sehen zu können, unabhängig vom Stadium des jeweiligen Werks.

So wünsche ich mir vor allem zwei Dinge für diese Ausstellung im Kunsthaus Baselland. Dass die Künstlerinnen und Künstler selbst ihre Arbeiten neu sehen lernen und auf ihr Potenzial hin befragen können. Nun, da das Umfeld sich geändert hat, da Platz und Raum anstelle von Überlagerung innerhalb eines Hochschulalltags getreten sind, sind auch die Möglichkeiten gegeben, mit dem neuen Gegenüber, der Öffentlichkeit, eben dieses Gespräch über die Arbeiten und das eigene Schaffen zu führen. So werden einige Werke und Ideen wohl fortgeführt, manches wird aber auch verworfen werden, aber es werden sich mit Sicherheit eben auch neue Kriterien herausbilden können.

Der zweite Wunsch ist, dass wir als Besucher diese Chance aufgreifen und uns für einmal in das im Entstehen Begriffene einlassen. Nicht die Frage, was es sein könnte, ist dabei entscheidend, oder ob es in unseren Augen gut ist oder schlecht, sondern was es für uns bereithalten könnte. Alle Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Ausstellung stehen innerhalb ihres Studiums, aber das Künstlersein bindet sich bekanntermassen nicht an Ausbildung und Semester, sondern ist bereits zuvor angelegt. Bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger. Lassen wir uns also überraschen von dem Privileg, für einmal das Kunsthaus gewandelt in einen Ort vorzufinden, an dem vieles sichtbar, aber eben auch vieles im Entstehen begriffen ist — und wir alle eine Vielzahl an besonderen Momenten und Erfahrungen für uns mitnehmen können.
Text von Ines Goldbach


Dies ist eine ungewöhnliche Ausstellung. Sie konfrontiert das Publikum mit den Arbeiten von ungefähr zwanzig Studierenden, die dieses Jahr ihren Abschluss machen und ungefähr vierzig, die noch im ersten oder zweiten Jahr ihres Bachelor-Studiums sind. Das Diplom kennzeichnet ein Kunstwerk, das einem Publikum vorgestellt wird und den Beginn des künstlerischen Lebens markiert. Dieses alte Ritual ist von grundlegender Bedeutung: Es ist der Moment, in dem Werk und Betrachter sich gleichzeitig in einer öffentlichen Kunstinstitution wiederfinden. Die Ausstellung derer, die abgeschlossen haben, auszuweiten auf die, die sich noch im Studium be nden, gibt allen die Gelegenheit, ihre Aufgabe als Künstler vorauszuahnen. Kunst ist nicht nur dazu da, zu gefallen oder mit Sto en zu üben auf Weisen, die der Funktionalität wider- sprechen. Sie erinnert uns auch daran, wie wir uns selbst anders wahrnehmen, indem wir die Welt anders sehen.

Keine gemeinsame Eigenschaft eint diese Werke, und doch: Was alle zusammenhält, ist eine Energie, gerichtet auf ein komplexes Verständnis des Selbst und sein Funktionieren. Ein traditionelles Verständnis des Selbst kommt nicht mehr mit der durch Medien unausweichlich gewordenen Grösse der Welt zurecht — hier wird also instinktiv Forschung betrieben. In der ganzen Ausstellung werden Sie dem Selbst und dem Absurden begegnen, dem Selbst und der Form, dem Selbst und der Strasse, dem Selbst und den Medien, dem Selbst und dem Nichts, dem Selbst und dem Surrealen, dem Selbst und der Hand, dem Selbst und der Technologie… Sie fragen sich vielleicht, ist das ein gestelltes Thema? Ein Zufall? Es ist kein Thema, denn es ist nicht ein Motiv unter anderen Motiven, sondern der Versuch zu verstehen, wie das Spiel, das zwischen unserem Bewusstsein (dem Selbst) und dem Sozialen läuft, sich radikal verändert hat. Auch, wie diese Verwandlung nicht nur unsere Gewohnheiten, sondern auch unsere Gefühle verändert. Kunst bietet ein Feld, auf dem wir untersuchen und besser verstehen können, was das bedeu- tet. Von Selfies über Social Media, körperliche Gewalt und Mobbing, alle Arten von Bedrängnis bis zur Isolation: In letzter Zeit haben wir vielfach erlebt, wie Protokolle, Normen und Regeln die Regie übernahmen und unser Denken beein ussten. Wir sind streng geworden.

Lockeres Denken ist der Titel der Ausstellung. Der wissenschaftliche Terminus wurde vom Anthropologen und Philosophen Gregory Bateson geprägt. Bateson war einer der ersten, der über die Bedeutung des Lockeren nachdachte, über Impulse und Energien, die nicht gerichtet, geplant und in Strategien integriert, sondern gelebt werden. Ohne diese Energien wäre Denken — und noch wichtiger: innovatives Denken — nicht möglich. Zu lernen, wie dieses Spiel unsere Intelligenz und unsere Weltau assungen beein usst, braucht Risikobereitschaft. Kunst ist nicht die einzige Disziplin, in der solche Ideen ständig präsent sind. Aber sie ist auf jeden Fall diejenige Sparte, die ein aufrichtiges Interesse an konstanter Zukunftsforschung an den Tag legt: Wie wird sich die Beziehung zwischen dem Möglichen und der Erwartung gestalten?

Die Ausstellung im Kunsthaus Baselland bietet Ihnen die Möglichkeit einer noch nie dagewesenen Nähe zur Arbeit. Der Grund sind die unterschiedlichen Stadien der Arbeiten der Künstlerinnen und Künstler, die wir hier präsentieren. Es werden Ihnen Gedankenwege, Arbeitsmethoden, das Geschick oder Ungeschick und vielleicht sogar die Irrelevanz von Können au allen. Das ist nicht nur kein Problem, es erzeugt einen neuen Raum, auch für die Besuchenden, um eine neue Art der Kunstbetrachtung zu trainieren.

Wir können von diesen Arbeiten so viel lernen! Sie sind noch im Werden, sie liegen offen, und das provoziert. Mit anderen Worten, diese Ausstellung ist ein sehr aktives Feld. Sie prüft Logik. Nehmen Sie zum Beispiel die Installation von Partituren und kleinen Skulpturen, die auf der Möglichkeit beruhen, in mutigen Köpfen Musik zu spielen. Die Serie von Holz ngern, die zur Decke zeigen als würden sie darauf warten, den Touchscreen eines riesigen Mobiltelefons zu bedienen, wer weiss…; oder eine Serie von kleinen Malereien und ein Video, das von der Erfahrung berichtet, als Austauschstudent hier zu leben, von Liebe und Freundschaft und wie alles den Körper transformiert; oder ein Tisch voller Kacheln aus Karton, mit blassrosa Staub bedeckt, die eine Luftaufnahme der Stadt suggerieren oder eine Welt, die beängstigend uniform wird, langweilig; oder die Dekonstruktion unserer täglichen urbanen Umwelt in einer Gemäldereihe, die sie ‹de-repräsentiert›; oder ein Video eines Pärchenscans. Kann man Liebe scannen? Gefühle? Die Werke versetzen uns in die verschiedensten Situationen, und es lohnt die Mühe, sich selbst in diesen ästhetischen, materiellen und konzeptuellen Szenarien anzusiedeln.

Aus irgendeinem Grund nehmen wir das Leben über Funktion und Arbeit stärker wahr als durch andere Aspekte wie unserem Gender, unserem Ort oder unserer Neugier für das Leben anderer. Vermutlich ist das genau der Grund,warum diese Parameter jenseits der Arbeit an Bedeutung gewinnen, da das Lebensverständnis, das sie liefern, nicht auf die selben paar instrumentellen Parameter reduziert werden kann. Die Spannung zwischen arbeitsorientierter Weltsicht und Teilen des Lebens jenseits der Arbeit steigt. ‹Revolution›, wenn man diesen Terminus verwenden möchte, ist nicht die Energie, die wir in Kämpfe gegen den ‹Patron› oder gegen die Logik der Ökonomie stecken, sondern zunehmend auch die kollektive Energie, die in die Produktion neuer Realitäten eingeht. In Realitäten, die sich nicht so leicht den älteren anpassen lassen. Die Revolution von morgen wird kein Aufstand sein, sondern eine grosse Anzahl von Menschen, die ihr Geschlecht selbst definiert, was komplexere und intensivere Netzwerke erzeugt, die sich auf Natur und Technologie in einer eher psychologischen und weniger werkzeughaften Art beziehen… Ein Loch in Gewohnheiten zu schaffen bedeutet Innovation. Es ist so radikal und neu, dass es uns ein wenig erschreckt. Um uns vorzubereiten, um zu trainieren, haben wir die Kunst.

Aber diese Ausstellung ist nicht bloss eine weitere relevante, öffentliche und hoffentlich sehenswerte Gelegenheit, all diese Ideen zu testen. Sie ist auch der perfekte Ort, um Bildung, ihre stillen Machenschaften und radikalen Auswirkungen zu wittern. Man fühlt in der Grösse und Sprache der hier gezeigten Werke noch das Studio. Man bemerkt die Luft des Ateliers, eine Feinheit, eine gewisse Fragilität in allen Werken. Dieses Noch-nicht-Professionelle ist kein Mangel, sondern eine exquisite Eigenschaft — wie sanfte Haut oder riesengrosse Augen —, ein Reiz, der uns herausfordert und uns der Kunst näherbringt, ja auch den Künstlerinnen und Künstlern. Die ganze Situation erlaubt uns, die Arbeit zu verstehen, die die Künstlerinnen und Künstler sowie die Dozierenden an unserem Institut verrichten, indem sie versuchen, Kunst zu verstehen.

Viele Gesten kreisen um wichtige Fragen die unsere heutige Gesellschaft prägen. Themen, die in Aktion übersetzt werden, in Schaffen oder Vorführen. Kunst zu schaffen ist jedoch ein radikal anderes Schaffen. Es ist vielleicht realer und eloquenter als jedes andere. Wenn heute vom «wirklichen Leben» die Rede ist, sind meistens globale Medien gemeint. Das bedeutet, dass immer häufiger der Protest gegen die Kunst oder das Museum der Gegenwart nicht mehr einen Kampf gegen normierten Geschmack im Namen von ästhetischer Gleichberechtigung darstellt, sondern umgekehrt zum Ziel hat, vorherrschende Geschmäcker zu fixieren und zu vertiefen. In Wirklichkeit geben nur Ausstellungen — und insbesondere Ausstellungen von zeitgenössischer Kunst — die Gelegenheit, den Blick zwischen Alt und Neu, Vergangenheit und Gegenwart zu differenzieren.

Ausstellungen wie diese erinnern an alle anderen Ausstellungen, die man im Leben gesehen hat. Ausstellungen sind Gedächtnislager, sie speichern die Bilder und Gegenstände, die unsere Au assung von Kunst bevölkern und konstituieren. Und so können nur neue Ausstellungen dieses Gedächtnis reaktivieren und mit der Aktualität der ausgestellten Werke unser Kunstbild kitzeln und modifizieren. So ist jede neue Ausstellung der Ort eines zwar persönlichen, aber systematisch historischen Vergleichs, der uns erlaubt, mit eigenen Augen zu sehen, was wirklich anders, neu und zeitgenössisch ist.

Während die Massenmedien andauernd ihren Anspruch erneuern und den Zuschauer mit verschiedenen grundsätzlichen, provokativen, wahren und authentischen Arten von Kunst konfrontieren, ist das Institut Kunst zuallererst ein Ort, an dem gelernt wird dieser Diktatur des Geschmacks durch gegenwärtig herrschende Medien zu widerstehen. Das Institut Kunst ist ein Labor zur Entwicklung neuer Neuheiten. Zu sehen, was vor uns liegt, ist eine komplexe Erfahrung.
Text von Chus Martínez

Kurator*in: Ines Goldbach und Chus Martínez, Leiterin Institut Kunst der HGK FHNW