Regionale 18
26.11.2017
—
7.1.2018
Being Syntopic
- Camenisch | Vetsch
- Walter Derungs
- Johannes Esper
- Georg Faulhaber
- Franziska Furter
- Jörg Gelbke
- Martina Gmür
- Klára Grančičová
- Guillaume Greff
- Birgit Kempker
- Lola Läufer
- Hartmut Meyer
- Claudia Michel
- Dawn Nilo
- Dana Popescu
- Urban Saxer
- Kathrin Siegrist
- Florian Thate
- Simon Welch
- Sebastian Wiemer
- Sophie Yerly
Being Syntopic erzählt auf visuelle Weise vom Leben und Werk einer Gruppe von Menschen, die in einem engen räumlichen Zusammenhang leben und arbeiten. Es handelt sich um in der Region ansässige Künstlerinnen und Künstler, deren Geschichte sich aus Vergleichen, Gegensätzen und Verbindungen aufbaut. Der Protagonist dieses Erzählstrangs ist keine Einzelperson, sondern eher ein Kompositum aus vielen Charakteren.
Die Beobachtung der verschiedenen Kunstschaffenden und ihrer Arbeit in der diesjährigen Regionale ließe sich als eine Art «synoptisches Lesen» beschreiben — eine Methode, bei der mehrere Bücher zugleich gelesen werden. Dieser Ansatz geht auf das griechische «Syntop» zurück bzw. das in der Biogeografie als «syntop» bezeichnete gemeinsame Vorkommen mehrerer Arten im selben Habitat. Aus dieser Vielfalt an Stimmen und Identitäten — aus dem Konzept von Verkörperung, Verdrängung und Zugehörigkeit in einer Zeit, in der Identität erneut durch den Herkunftsort einer Person bestimmt wird — entsteht der Handlungsstrang dieses fiktionalen europäischen Themas.
Rauschen — das klingt nach einem leicht kribbelnden Ton, der noch im Ohr nachhallt, auch wenn er schon verschwunden ist. Eine Schwingung, manchmal leise und manchmal lauter, undefiniert in der genauen Form, ein sanfter Störfaktor. Die Videoinstallation von Camenisch und Vetsch mit dem Titel Rauschen 2 verhält sich genau so — ein visuelles Kribbeln, ein Augenrauschen, das ebenfalls im Körper nachwirkt, auch wenn man den Raum schon längst verlassen hat.
Die Mehrkanalvideoprojektion, die sich über alle Wände des ersten grossen Raumes im Untergeschoss wie auch über seine Decke ausbreitet, zeigt die zarten Konturen übereinandergelagerter Zweige und Blätterwerke. Ein starker Windstoss scheint die Äste in Abständen in Schwingung zu bringen — sie bewegen sich einmal leicht nach oben, dann wieder nach unten, werden mal deutlicher in der Kontur, mal scheinen sie dieselbe für einen Moment zu verwischen.
Christine Camenisch und Johannes Vetsch arbeiten seit vielen Jahren an raumfüllenden Videoinstallationen, die das Potenzial in sich tragen, die umgebende Architektur zu überschreiben und das feste Gefüge in etwas Bewegtes zu wandeln. Im Loop angelegt, sind es keine Narrationen mit einem Anfang und einem Ende. Es können einerseits abstrakte Formen sein, die über Raumwände geführt werden und die Horizontalität eines Raumgefüges zu unterstreichen in der Lage sind; anderseits sind es — wie im Falle von Rauschen 2 — Aufnahmen von realen Naturbegebenheiten, die in ihrer Überlagerung und Bewegung erneut einen hohen Grad der Abstraktion erreichen. Eines aber scheint allen ihren Videoarbeiten gemein: Der Reduktion im projizierten, sich wiederholenden Abbild steht eine überraschende Poesie des Erlebten gegenüber.
Text von Ines Goldbach
Das Bild OZ Raum 1 ist eine von vier grossformatigen, mehrteiligen Unikaten, die Walter Derungs seit 2011/12 realisiert hat. Als Ausgangsmaterial dienen dem Künstler Archivaufnahmen, die auf einer Forschungsreise im Jahr 2005 durch Westaustralien entstanden sind. Das gezeigte Bild zeigt eine Innenaufnahme des Gefängnisses in Fremantle. Durch den Entwicklungs- und Vergrösserungsvorgang in der Dunkelkammer und durch die Verwendung von Ausschnitten eines Diapositivs entstand als Resultat ein sechsteiliges Negativbild.
Seit Langem beschäftigt sich Derungs mit historisch aufgeladenen oder auch architektonisch besonderen Bauten, die er nicht nur durch die immense Grösse der Abzüge in ein Mass überträgt, dass sie selbst Teil des Raumes werden. Es kann brutalistische Sakralarchitektur der Nachkriegszeit in der Schweiz sein, Stadtruinen der Neuzeit oder – wie hier ausgestellt – Gefängnisarchitektur in Australien. Im 19. Jahrhundert ein geläufiger Bautypus, wurden die Gefängnisse teilweise bis in die 1990er-Jahre noch aktiv betrieben. Die fotografisch glatten Oberflächen der Vergrösserungen werden durch den manuellen, teilweise verzögerten Entwicklungsvorgang durchbrochen und weisen Schwamm- wie auch Pinselspuren auf. Die Räume erscheinen in seltsam kontrastreichem Licht. Die Arbeit entwickelt sich aus verschiedenen Schichten, die erst aus der Nähe entschlüsselt werden können. Es entsteht ein Wechselspiel zwischen abstrakten Strukturen der fotografierten Gebäude und den malerischen freien Formen.
Derungs experimentiert in der Dunkelkammer und entscheidet intuitiv, welche Partien hervorgehoben oder überzeichnet werden. Die Verbindung von malerischen und fotografischen Techniken im gleichen Medium führen zu einer grossen Leichtigkeit und Lebendigkeit. Diese Experimentierfreude findet sich in grossformatigen Werken wie OZ Raum 1 wieder. Der Innenraum ist menschenleer. Kontraste und Konturen lassen ansatzweise Schattenspiele erahnen; technische Spuren der fotografischen Entwicklung und leichte Verwischungen auf der gesamten Bildoberfläche verleihen dem Raum dynamische Präsenz. Ein subjektiver Vorstellungsraum öffnet sich und ermöglicht, imaginär in diesem Raum umherzugehen — so irritierend, gespenstisch er anmutet, so faszinierend bleibt er während der aufmerksamen Betrachtung.
Text von Ines Goldbach
Und dann stehen sie einem gegenüber — ohne Sockel, auf der gleichen Ebene wie man selbst. Ihr Gewicht ist regelrecht zu spüren. Aufgetürmte Tonmassen verschiedener Höhe auf dem Boden, an der Wand zu Reliefflächen ausgeformt. Fingerkuppen, Hände, die sich mal stärker, mal mit weniger Gewicht in das noch weiche Material hineingegraben haben. Die hohen plastischen Körper tragen deutlich die Körperspuren des Künstlers und lassen den Prozess sichtbar werden. Es sind keine Objekte, die nach einer perfekten Form streben, nach Ebenmässigkeit oder gar Makellosigkeit. Es ist eine in Form gebrachte Energie, die da spürbar wird, Geste und Material gerinnen zu Speichern, die Zeit, Abläufe, Gefühle, Stunden, Tage und Monate der Atelierarbeit enthalten. Alles ist ablesbar: Wie der Künstler in seinem Studio die Objekte aufbaut, sich in sie förmlich hineingräbt, gerade so hoch, dass sein ausgestreckter Arm noch den Grund der hohlen Körper erreichen kann. Der Massstab der Plastik entspricht dem Körpermaß. Die Arbeiten sind Zeugnisse von einer Kraft und Bewegung, die erst im Moment der fertigen Arbeit, nach den Brennvorgang, zu Ruhe kommt und zur Gestalt gerinnt.
Johannes Esper arbeitet seit vielen Jahren konsequent an diesem künstlerischen plastischen Prozess. Ein hochkonzentriertes und zugleich hochdynamisches und energetisches Arbeiten. Seine Werke sind keine Behauptungen im Raum, keine Statements. Es ist nicht die eine gefundene Form, die zelebriert wird. Es ist vielmehr der Prozess, der eine Form gefunden hat und — kaum ist eine Arbeit abgeschlossen — zur nächsten führt. Espers Boden- und Wandarbeiten vermitteln daher vor allem eines: ein offenes, keinen Plan verfolgendes und nicht enden wollendes Machen und Entwickeln einer Form, die all diese unverstellte Energie in der Lage ist zu speichern und dabei dem Gegenüber ein hohes Mass an Freiheit ausstrahlt.
Text von Ines Goldbach
Wozu erschafft sich der Mensch Monumente? Wofür fertigt er Konstruktionen der Gesellschaft, Strukturen und Bauten, die grösser sind als er selbst, nur um sich stumm und voller Demut davor zu verbeugen? Das Monument erscheint uns als nutzlose Architektur, als Ruine der Moderne. Monumente versetzen uns in eine kollektive Nostalgie, in Räume der Erinnerung und Sehnsucht, nach einer anderen Zeit an einem anderen Ort. Objekte, die ihre Zeit überdauern. Monumente der Vergangenheit, Symbole ohne Kontext.
Die 2017 entstandene Installation Monument von Georg Faulhaber befragt ortsspezifische Erfahrungswerte und kreiert ein Dispositiv, zu dem man sich verhalten muss. Es ist eine physische Situation der Wahrnehmung. Durch das Eintreten in einen neuen Ort, eine andere Erfahrung wird die eigene, bisherige Erfahrung fremd. Die zusätzliche, grosse Projektion filmischer Momentaufnahmen steht in einem ständigen Austausch zu Mensch und Körper. Projiziert werden Bilder in der Totale, unbeweglich, fast starr. Doch feinste Bewegungen werden wahrgenommen, die poetische Bildsprache der Aufnahmen wird durch nackte Körper gebrochen, die einerseits das Mass der Architektur verstehbar machen, zugleich aber mal fragil, mal stolz und stark wirken.
Die Installation gleich zu Beginn der Ausstellung beschreibt einen Ort des stattfindenden Transfers, eine Schleuse, durch deren Nadelöhr sich der Besuchende begeben muss. Die Begriffe «aussen» und «innen» sind durch die Unausweichlichkeit der Schleuse nicht weiter ausschliesslich Positionswechsel. Sie sind Funktionsverschiebung und Vorgabe — zugleich aber auch Verheissungen. Plötzlich agiert das räumliche Dispositiv als Strategie der Führung, denn der Besuchende muss durch die Installation hindurchgehen und wird sich dem Dialog von Körper, Raum und Projektion kaum entziehen können.
Text von Micha Gasser
Getrocknete Tränen — das klingt poetisch, vielleicht auch ein wenig melancholisch. Es klingt aber auch nach der Fähigkeit, etwas Verflüchtigendes in eine feste Form gewandelt zu haben. Eben dies ist seit Langem ein wichtiges künstlerisches Prinzip des Künstlers. Jörg Gelbke, der Bildhauerei an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe studierte, greift in vielen seiner Arbeiten zunächst auf nahezu klassische Bildhauermaterialien wie Bronze, Messing oder andere Metalle zurück. Dem Prozess der Formfindung allerdings legt er ein äusserst zeitgenössisches Verständnis von Skulptur und Bildhauerei zugrunde.
Ausgangspunkt können Fundstücke, gebrauchte Gegenstände oder auch Landschaftsgefüge sein. Für die im Kunsthaus Baselland gezeigte Arbeit verwendete Gelbke ein grosses, gefundenes Riffelblech aus Eisen — ein sogenanntes Tränenblech. Ausgehend von diesem Blech, mit all seinen Spuren und Schrunden, fertigte der Künstler eine Negativform aus Gips und drückte in einem zweiten Schritt Ton in diese Form. Der Ton wurde nunmehr an der Luft getrocknet und riss — im langsamen Trocknungsprozess — an einigen Stellen. Die durch diesen Herstellungsprozess entstandene Form, die der Künstler nur teilweise direkt beeinflussen konnte, diente ihm nunmehr als Ausgangslage für den Eisenguss. Es gehört zum Faszinosum der Arbeiten von Gelbke, die selbstverständlich und rätselhaft zugleich sind, dass der Faktor Zeit und Zufall eine grosse Rolle bei der Werkentstehung spielt. Der Künstler greift immer wieder in den Prozess ein, wartet aber zugleich auch ab, was im Verlauf der Zeit passiert. Nur bedingt kann er selbst das Endresultat vorhersehen. Die jeweilige, im Prozesse entstandene Form giesst Gelbke in einem letzten Schritt in ein Material wie Bronze oder Eisen und überführt es so in eine permanente Form — das, was gerade noch fragil und kurzlebig erschien, erhält Stabilität und Dauerhaftigkeit.
Text von Ines Goldbach
Seit vielen Jahren führt Martina Gmür sowohl ihr malerisches Werk als auch ihre installativen Arbeiten konsequent voran, für welche sie aktuell Gipsuntergründe mit Acrylfarbe oder Bleistift bearbeitet. Mal sind es feine Zeichnungen, welche die fragilen Untergründe überziehen, mal gestisch anmutende, malerische Momente. Die Arbeiten, die Gmür nun im Kunsthaus Baselland zeigt, erstaunen zunächst: Ein gewölbtes Gipsschild lehnt an der Wand, einem menschlichen Hinterteil nicht unähnlich. Davor eine Form — bestehend aus gebranntem Ton —, die an Exkremente erinnert. So unerhört dieses Thema und seine künstlerische Formulierung einerseits wirken mag, so alltäglich und zugleich zentral für unser Leben ist es andererseits. «An unseren Exkrementen», so die Künstlerin, «können wir erfahren, wie es uns geht. Ein prächtiges Stück könnte demnach auch heissen: alles ideal.»
Ähnlich irritierend mag die Arbeit Bombe eins auf das Gegenüber wirken. Wie könnte man diesem Gefühl eine Form geben, auch dem, was wir sprachlich kennen: Etwas ist explosiv, kompakt, eine Hülle mit Hohlraum, gefährlich, aber eher nostalgisch entschärft und zugleich humorvoll. Es kann sich in etwas Feines verwandeln oder in etwas, das jenem Satz entspricht: «Das ist Bombe!»
Es sind aber nicht allein die einzelnen Arbeiten, die tiefgründig, humorvoll und poetisch sein können und das Schaffen von Martina Gmür widerspiegeln. Für die in Basel arbeitende Künstlerin gibt gerade das Zusammenspiel von Präsentation und Bildmotiv ihr explizites Interesse an Werk, Architektur und Umraum wieder. Ihre dreidimensionalen Arbeiten laden dazu ein, sich im Raum zu bewegen und die Zwischenräume ebenso zu erfahren, die sich physisch, aber auch sprachlich und gedanklich öffnen.
Text von Ines Goldbach
Die Welt aus ihrem starren und komplexen Raster entfesseln und die zwischenmenschliche Kommunikation wieder etwas einfacher machen. Dies ist der Wunsch und der Arbeitsansatz von Klára Grančičová. Im Kunsthaus Baselland zeigt die Künstlerin eine Auswahl ihrer Serie Sometimes Good, Often Just Noisy. Abstrakte, geometrische Zeichnungen, die meist versehen sind mit einem Wort oder einem kurzen Satz.
Die Inhalte richten sich auf alltägliche Themen oder eigene Gefühlswelten, die Grančičová mit meist roten, blauen oder schwarzen Linien und Mustern auf verschieden formatige Papiere überträgt. Dies ist ihre Art, sich Notizen zu machen und ihre Alltagserlebnisse zu verarbeiten. Die Zeichnungen entstehen über den Tag verteilt. Manchmal innerhalb von wenigen Minuten. An manch anderen Tagen fertigt sie mehrere Skizzen an und benötigt viele Stunden, um zu einem Fazit zu kommen. Das geschriebene Wort ist dabei meist an erster Stelle, gefolgt von der Zeichnung, die dem Gedanken eine Interpretation gibt. Dabei kann man sich gut vorstellen, wie schwierig es sein muss, komplexen Aussagen eine einfache und verständliche Form zu verleihen.
Die Zeichnungen sind teilweise kunsthistorische Reminiszenzen, wenn auch nicht eindeutig zuzuordnen. Vieles spielt sich instinktiv ab, so die Künstlerin, doch verspüre sie auch einen Drang, bewusst mit ihrem ‹Ich› und frei von Gedanken ein Zeichen zu setzen. Und wie lässt sich nun den Zeichnungen am besten begegnen? Vielleicht damit, die einzelnen Blätter nach und nach genau zu betrachten und vorab nur die Wörter zu lesen. Vielleicht kann man versuchen, sich dabei die passende visuelle Übersetzung vorzustellen. Gibt es Parallelen zu der zeichnerischen Ausführung der Künstlerin? Klára Grančičovás Arbeiten sind rätselhaft und faszinierend zugleich. Doch wer sich auf die visuelle Reise einlässt, verspürt einen grossen Gewinn.
Text von Patricia Hug
Im Jahr 2011 erhielt Guillaume Greff vom Centre national des arts plastiques ein Stipendium in der Kategorie «Zeitgenössisches dokumentarisches fotografisches Schaffen» für sein Projekt Dead Cities. Im Jahr darauf bekam er für ein Projekt am Rhein die grenzüberschreitende Förderung «Regards sans limites (Limitless Gazes)». Derzeit arbeitet der Künstler an seinem Projekt Lupina, das er während mehrerer Residenzen in Finnland, Island und Norwegen realisierte.
Im Kunsthaus Baselland zeigt Guillaume Greff eine Schwarz-Weiss-Fotografie, deren Motiv zunächst irritierend wirkt und dem Gegenüber viel Interpretationsspielraum zu überlassen scheint. Zwei Menschen posieren vor der Kamera, beide eingehüllt in schwarze Abdeckplanen. Die Plastikplanen sind durch die vorgängige Faltung mit Horizontalen und Vertikalen versehen; die spröde Materialität des Überwurfs ist in den schroffen Falten zu erkennen. Einzig die Schuhspitzen ragen unten aus der Verhüllung heraus und erinnern in ihrer Form an moderne Militärstiefel.
Die Landschaft, in der diese beiden Protagonisten stehen, wirkt still und karg. Der Boden ist unasphaltiert, platt getreten und erdig. Stromleitungen hängen zwischen den Baumwipfeln. Das Bildmotiv wird von zwei festungsartigen Bauten flankiert. Die Fotografie transportiert eine nur schwer zu greifende Stimmung, die geprägt ist von vielerlei Vermutungen während des Betrachtens. Während seiner Residency in Finnland und einiger kürzerer Aufenthalte in Norwegen und Island verhandelte Guillaume Greff intensiv das Verhältnis von Fotografien aus Fotoarchiven und dazu korrespondierenden neuen Aufnahmen. Er recherchierte unter anderem im öffentlichen Fotoarchiv des Zweiten Weltkriegs in Finnland, reiste an die dort gefundenen Orte, suchte karge Landschaften und stille Architekturen auf. Er untersuchte die spezifische Typografie jener Dokumentarfotografien, hinterfragte diese und imitierte sie in neuen Aufnahmen. In der fotografischen Serie SA KUVA bewegt sich der Künstler zwischen Fiktion und Realität. Dem Gegenüber bleibt verborgen, ob er einem inszenierten Motiv oder einer dokumentarischen Fotografie gegenübersteht.
Text von Christina Schmitt
Birgit Kempker hat spezielle Instrumente für ihr Schaffen — sie arbeitet mit Wort und Bild. Bald seit 40 Jahren ist sie als Schriftstellerin tätig, und doch beschreibt das Wort Schriftstellerin ihre Tätigkeit nur partiell. Sie ist auch an diversen Ausstellungen beteiligt, wirkt an Theaterproduktionen mit, schreibt Hörspiele und Filmessays und arbeitet mit Sound. Gedankenräume zu errichten und dem Neuen und Unbekannten dort eine Heimstatt zu geben, ist das, was ihre Texte und Poesien dem Gegenüber ermöglichen. Für die Regionale im Kunsthaus Baselland wurde Kempker eingeladen, einen Text oder auch ein Gedicht zu verfassen und sich auf das Thema einzulassen, das sich als sanfte Bande durch die Ausstellung webt. Körper im Raum sowie der Blick auf das Selbst innerhalb eines räumlichen Gefüges.
Ein Text ist für Birgit Kempker immer auch ein Bild, das sich innerhalb des Raumes und innerhalb von Zeit ausbreiten und darin erfahren werden kann. In unzähligen Sprachbildern tastet sie sich an Fragen und Themen heran, die für uns alltäglich nah und doch kaum zu fassen sind. Deswegen braucht es Sprache — um Worte für das zu finden, was sich sonst verflüchtigen würde; und Bilder für das, was nicht in Worte zu fassen ist. Wenn beides zusammenkommt, darf man vielleicht von Glück sprechen.
Text von Ines Goldbach
Im Untergeschoss des Kunsthaus Baselland begegnet der Besucher mehreren grossformatigen Arbeiten der in Karlsruhe und Offenbach lebenden und arbeitenden Künstlerin Lola Läufer. Auf den ersten Blick sehen sie aus wie überdimensional grosse Bücher, deren Vorlage rätselhaft bleibt. Gleichzeitig Medium, das manch einer vielleicht bereits durch digitale Medien ersetzt hat. Tritt man näher heran, erinnern Linien und Muster an das Layout bekannter Verlagsgruppen, und typische Gebrauchsspuren wie Flecken, Schlieren und Risse werden ersichtlich. Welche Geschichten sich hinter den Artefakten verbergen?
Der Künstlerin geht es weniger um das Endresultat als vielmehr um den Prozess der Entstehung. Unter dem Motto «aus alt werde neu» vergrössert Läufer digital bearbeitete Scans bestehender Buchcover Schritt für Schritt mit einem Tintenstrahldrucker und überträgt sie auf hauchdünnes Papier oder teilweise auf Seidenstoff. Das Motiv gehört dabei zu einer ganzen Sammlung von gegenständlichen und auch oft architektonischen Fotografien, die sie über Jahre anlegt und die neben der Auswahl ein wichtiger Bestandteil ihrer Arbeitsweise sind. Untitled gehört für einmal nicht zu einem Werk, das nicht betitelt werden soll, sondern bezeichnet die absichtliche Weglassung der einst beschrifteten Objekte und gibt den Werken den so passenden Namen.
Läufers Interesse gilt dem Zufall, den Vorkommnissen und in diesem Falle den fehlerhaften Verschiebungen, die nicht vorhersehbar, aber wichtig für ihr weiteres Vorgehen sind. Das Resultat im Vorhinein nicht abschätzen könnend, reduziert sie die Sujets, vervielfältigt die Vorlagen und setzt sie wieder zusammen — mit neuen Entscheidungen über Farbe und Anordnung. Dabei entstehen Überlagerungen und Leerstellen, die zusammen mit dem anschliessenden Aufziehen auf Holzrahmen und der passend zum Buchcover seitlichen Färbung den Arbeiten ihre Lebendigkeit verleihen. Die Offenheit, welche die Serie der Bücher trotz ihrer Rätsel vermittelt, entspricht der Absicht der Künstlerin: In der Präsenz der Bücher, so Läufer, liege auch die Aussage. Sie seien das, was sie zeigen und was ihn ihnen gesehen werde.
Text von Patricia Hug
Hinschauen, betrachten, neu ausrichten. Mit diesem Vorgehen lassen sich die Werke von Hartmut Meyer am besten erfassen, denn die Augen des Gegenübers kennen die Massstäbe nicht, müssen sich ein- und umstellen. Hartmut Meyer schnitzt seine Kunst in die Spitzen von Zahnstochern, hin und wieder misst eine Arbeit bedeutend weniger als einen Millimeter.
Fragen drängen sich auf: Was ist das Schnitzen von Holz mit einem Messer? Ist es Kunst? Oder ist es doch Handwerk? Oder Kunsthandwerk? Und welchen Stellenwert nimmt die Tatsache ein, dass die Schnitzerei so winzig ist, dass das menschliche Auge den eigenen Fokus beträchtlich umstellen muss? Das Sehen des Gegenstands (Zahnstocher), das Erkennen der Form, seiner Farbe. Man versucht intuitiv Muster im Gedächtnis zu suchen und diese abzurufen. Abgleichen mit dem Bekannten, dem Sehenden. Ist die Figur ein Vogel? Ein Mensch? Ein Seepferdchen? Doch ein Elefant? Ein Segelschiff? Die eigene Fantasie beginnt zu formen, zu vergleichen. Das ausgestellte Werk Mann, rotes Hemd, blaue Hose benennt das zu Sehende. Es fordert eine Nähe vom Gegenüber, eine Bereitschaft, sich auf eine neue Situation einzulassen.
Die Fantasie ist angeregt — und doch: «Wieso so winzig? Wieso ein Zahnstocher, ein Allerweltsgegenstand?» Für Hartmut Meyer ist das längst keine Frage mehr. Er möchte, dass das Ausgangsmaterial für jeden zu bekommen ist, einfach und überall. Im Supermarkt, an der Tankstelle, im Restaurant. Nur ist es mit dem Zahnstocher allein nicht getan. Eine hohe Fingerfertigkeit ist erforderlich, präzises Sehen und vor allem genaues Wissen um die zu entstehende Form. Nur dann ist ein Abstrahieren angebracht. Nur dann kann Kunst im Grossen mit Details spielen, nur dann ist die Gesamtheit seiner Arbeiten ein Detail.
Text von Micha Gasser
Die in Basel und Berlin tätige Künstlerin Franziska Furter ist mit einer neuen Arbeit präsent, die auf ihren Japanaufenthalt im Frühjahr 2016 zurückgeht. Kennt man sie vornehmlich als Zeichnerin, mag einen diese neue Serie aus Porzellan überraschen. Wie Handschmeichler oder auch kleine, zarte Wesen muten die Figuren an — figurativ und abstrakt zugleich. Sie sei, so Furter, während ihrer Residency in Tokyo fasziniert gewesen von Wesen, Göttern und Geistern, welche die japanische Geschichte beleben. So stiess sie bei ihren Nachforschungen auf die «7 lucky gods» und die «Nio-Wächter». Gleichzeitig interessierte sie sich für den Umgang mit Porzellan, dessen Geschichte und dessen sogenanntes Gedächtnis, die eng verwoben sind mit der japanischen Kultur. Wenn man zum Beispiel eine Tasse mache, so Furter, und während der Arbeit eine Delle ausgebessert werden müsse, könne es sein, dass die Tasse nach dem ersten Brand gut bleibt und die Delle nach dem zweiten Brand plötzlich wieder da ist. Dies habe sie zur Arbeit inspiriert.
Erinnert man sich an Arbeiten wie Scribble — dünne schwarze Glasstäbe, die Furter mit dem Bunsenbrenner erhitzt und geformt hat —, versteht man, dass für die Künstlerin die bewegte Linie oder dynamische Form seit Längerem eine wichtige Rolle in ihrem Werk einnimmt, auch bei ihren Arbeiten auf Papier. Und ebenso die Reihung von Werken, das Abschreiten derselben und das Sich-im-Raum-Ausbreiten der Arbeit, wie es bei Gespenster spürbar wird, spielen eine wesentliche Rolle für ihr Schaffen.
Die Bewegung scheint zentral. Da finden sich etwa Lineaturen, die an Bewegungslinien beim Comic oder Manga erinnern. Begleitet von wenigen Linien erscheint die gezeichnete Person in Bewegung. Eindeutig lesbar sind diese Quellen in den fertigen Arbeiten selten. Auch bei Gespenster kann es eine Reihe von Deutungen geben. Doch es sind nicht nur die körperlichen Bewegungen, die Franziska Furter interessieren. Auch der Lauf einer Idee, die Bewegung eines Gedankens — von einer Idee zum Modell zur konkreten Arbeit —, wird in vielen der Arbeiten lesbar. Es ist gerade die Leichtigkeit der Mittel, aber auch der Form, welche sich oftmals als fragile Gebilde, zarte Zeichnungen, leichte Raumgebilde aus Materialien wie Papier, Trinkhalmen und Nylonfäden präsentieren und dabei eine erstaunliche Offenheit und Poesie ausstrahlen, die Furters Schaffen auszeichnet. Text von Ines Goldbach
In ihrer 48-teiligen Serie aus Kugelschreiberzeichnungen Empty Spaces gewährt die Künstlerin Claudia Michel einen Einblick auf ihre Sicht auf den Innen- und Aussenraum ihres Ateliers in der Sternwaldstrasse 11 in Freiburg. Angelehnt an die 48 Zeichnungen Wilhelm Müllers (Sammlung Prinzhorn), der im frühen 20. Jahrhundert in der Mecklenburg-Strelitz’schen Landesirrenanstalt Domjüch untergebracht war und in den Jahren 1916—1918 den Ausblick aus dem Fenster seines Zimmers auf den Domjüch-See festhielt, kehrt Claudia Michel in empty spaces sein Vorgehen um.
Während Müller immerzu das gleiche Motiv des Aussen wählte und mit unterschiedlichen Materialien — je nachdem, was ihm in seinem Anstaltszimmer zur Verfügung stand — zeichnete, variiert die Künstlerin zwar ihre Motive, bleibt jedoch stringent bei schwarzem Kugelschreiber als Zeichenmittel. Für Claudia Michel ist diese (Alltags-)Materialität des Kugelschreibers in der Serie Empty Spaces von besonderer Bedeutung: «Kugelschreiber ist unberechenbar, manchmal schreibt er gar nicht, dann schmiert er; eine gezogene Linie kann nicht mehr korrigiert werden.»
Im Kunsthaus Baselland hängen nun die feingliedrigen Kugelschreiberzeichnungen auf Papier ungerahmt an der Wand. Das Druckerpapier — unterschiedlich in den Weisstönen und Formaten — zeigt an den Rändern Reissspuren, was die Materialität des Bildträgers nochmals hervorhebt. Die schwarzen Kugelschreiberlinien sind auf dem Papier deutlich zu erkennen. So finden sich neben 24 Fensterausblicken, beispielsweise auf den Schlossberg oder die Türme der Johanniskirche, auch Zeichnungen des Atelierschlüssels, des Buches Le Scaphandre et le Papillon von Jean-Dominique Bauby oder der Postkarte mit einer Abbildung der Skulptur Le Petite Châtelaine von Camille Claudel wieder. Claudia Michel versteht ihre Serie Empty Spaces als Substrat ihres eigenen Atelierraumes in Freiburg. Im Moment der Hängung in neuen Räumlichkeiten wie jene des Kunsthaus Baselland formiert sich die Serie innerhalb der Architektur und der Nachbarschaft mit weiteren künstlerischen Arbeiten neu. Die Zeichnungen treten aus ihrem bisherigen Kontext heraus, um neue Verbindungen einzugehen.
Text von Christina Schmitt
Dawn Nilo ist seit Langem vor allem für Performances bekannt, bei denen sie Gedichte und Texte mit dem Körper aktiviert und zugleich innerhalb eines räumlichen sowie politisch-gesellschaftlichen Gefüges verortet. Die raue und zugleich unmittelbare Präsenz der Figur des Narrs oder des Clowns, der sowohl tatsächlich als solches visuell verortet werden kann — etwa durch eine rote Nase oder durch das ‹Närrische›, das sich auch in Stereotypen wie der Lehrer, der Präsident etc. widerspiegeln kann —, tritt in ihren Filmen, Texten oder Performances immer wieder auf. Der Narr, so Nilo, erfährt die Realität ohne jeglichen Filter. Auch ihr Umgang mit Medien — die Übertragung von der analogen Form in eine digitale und wieder zurück — unterstreicht das konsequente künstlerische Nachfragen und Suchen nach einer geeigneten Form, um Wirklichkeit greifbar machen zu können. Im Kunsthaus zeigt die Künstlerin zwei Arbeiten, die eben vor diesem Hintergrund zu verstehen sind.
Geometry Poem besteht aus einer Serie von Blueprints mit abstrakten Form- und Liniengeflechten, die Dawn Nilo vom menschlichen Körper, seinem Sein und Sich-Bewegen in der Welt ableitet. Um den Klang und Rhythmus des Gedichts für den Körper spürbar zu machen, realisiert sie die Drucke als grossformatige Serie. Die Drucke selbst entstehen aus einer Verbindung von real gedruckten und digital animierten Liniengefügen. Was aber geschieht mit einer Arbeit, wenn sie im Fluss von analog und digital entsteht? Die zugrunde liegenden Zeichnungen wurden von der Künstlerin zunächst mit Bleistift auf Papier angefertigt, eingescannt und als E-Book unter dem Titel The Question veröffentlicht. In einem nächsten Schritt wurden die Bilddateien erneut umgewandelt, farblich manipuliert und als Negativ-Cyanotype gedruckt. Anschliessend wurden sie erneut in einem analogen Verfahren als Blaupause gedruckt.
Die Videoarbeit Um Kreis und Linie, deren Ausgangspunkt eine Super-8-Aufnahme ist, fokussiert auf eine Linie durch die Peripherie, die immer wieder im Bild erscheint. Es sei, so die Künstlerin, abstrakt und narrativ zugleich; eine Poesie von bewegten Bildern, die die innere Geometrie des Ichs erkundet. In einem zarten Rhythmus bewegt sich die Protagonistin durch Innen- und Aussenräume innerhalb Raum und Zeit, zwischen der farbigen und zugleich gebrochenen Textur eines 8-mm-Films. Indem die beiden Arbeiten von Dawn Nilo zu Beginn und am Ende der Ausstellung präsentiert werden, wirken sie wie eine Klammer innerhalb des gesamten Ausstellungsgefüges und ziehen somit selbst eine Linie durch das Gebäude, auf der die Besucher geführt werden.
Text von Ines Goldbach
Das Kunstwerk, das die Künstlerin Dana Popescu präsentiert, inspiziert unsere Vorstellung von Vergessen und Irrtum. Das Vergessen scheint ein Teil des menschlichen Alltags zu sein. Wir leben mit der Vergesslichkeit, ohne uns davor zu fürchten; wir vergessen unsere Träume, Anlässe und Daten, Namen, Menschen, die wir kannten. Mit der Zeit verkommen unsere Erinnerungen zu Bruchstücken von deformierter Realität. Und wie wir unsere Erfahrungen vergessen, wiederholen wir unsere Fehler, gehen zurück zum Ausgangspunkt, in einem scheinbar endlosen Kreislauf.
Die Videoinstallation On the Move besteht aus zwei Teilen, die je eine einminütige Nachtszene darstellen und im Loop wiederholt werden. Im Kunsthaus Baselland ist einer der beiden Teile zu sehen. Die beiden kurzen, sich wiederholenden Sequenzen rufen Erfahrungen hervor, die unser Gehirn während des Schlafs oder bei Tagträumen kreieren könnte und die wir vergessen haben, sobald wir wieder aufwachen. Der eine Teil der Videoarbeit, der im Kunsthaus nicht ausgestellt ist, widmet sich einem eher albtraumhaften, irritierenden Erlebnis. Das Motiv ist ein Vergnügungspark am Abend oder in der Nacht; Achterbahnen, johlende Menschen, unruhige und verwirrende Lichter im nächtlichen Durcheinander. Im gleichen Moment herrscht freudige Aufregung. Kreisende Bewegungen der Achterbahn und im Riesenrad symbolisieren anschaulich das Nicht-entrinnen-Können in einem endlosen Kreislauf.
Der andere Teil des Videos, der präsentiert wird, zeigt das Entfliehen aus dem grossen Kreislauf, hinein in einen Flug über den Vergnügungspark. Dieser Traum ist friedlich: Wir befreien uns und schweben über der Stadt, der Vergnügungspark ist fern, die Schreie sind verschwunden. Von oben sehen wir die leuchtenden Autos in Bewegung. Die Nacht wird zu einem Wesen des pulsierenden Lebens. Unsere Ängste sind still, die Gedanken frei.
Text von Micha Gasser
Liest man bei Urban Saxers Werk vorab nur die Betitelung Selfie und die Machart «Öl auf Leinwand», stellt man sich ein klassisches Selbstporträt vor. Das vom English Oxford Dictionary zum Wort des Jahres 2013 gekürte «Selfie» hat seither einen grossen Aufschwung durchlebt und ist heute vor allem in den neuen Medien allgegenwärtig. Doch wie soll ein Maler posieren und sich gleichzeitig malen?
Saxer zeigt uns eine dreiteilige Werkgruppe blosser Kleidungsstücke, und dies auf besondere Weise. Der in Basel lebende Künstler präsentiert eine Abfolge einer in ähnlichen dunklen Tönen gehaltenen Garderobe, die mit der Leserichtung von links nach rechts eine Sinnfälligkeit erhält: ein karierter Jackenärmel, ein Gilet auf einem Kleiderbügel, der an einem Nagel an der Wand hängt, sowie ein gestreifter Ärmel mit Manschette. Fragen nach dem Träger kommen auf: Wem gehören diese Kleidungsstücke? Wieder gibt der Titel die Antwort: Es handelt sich nicht um irgendeine Garderobe, sondern um jene des Künstlers selbst. Ein Gefühl von Intimität stellt sich ein, die mit den Erwartungen eines Selfies zumindest in dieser Hinsicht übereinstimmt. Denn im Unterschied zum klassischen Selfie, wo Urheber, Ort und Geschehen als eine geschlossene Einheit hinter einer schützenden Glasscheibe bleiben, ist hier der Urheber von Geschehen und Ort getrennt: «Bei meinen gemalten Selfies», so Urban Saxer, «ist der Urheber im Bild nicht direkt sichtbar, bei der Entstehung aber muss ich als Maler genau dort gestanden haben, wo jetzt die Betrachter stehen. Die Positionen beginnen sich zu vermischen.»
Die gemalte Textur der Materialität zieht den Betrachter in den Bann. Im Vis-à-vis mit der Serie möchte man über die stoffliche Wirkung hinaus mehr zur Person erfahren. Auch bei Urban Saxer wird der Betrachter aufgefordert, mit seinen eigenen Interpretationen die Gemälde zu ‹passieren› und sich eine Botschaft zurechtzulegen. Eines jedoch wird deutlich: Ein Selfie kann viel mehr sein als ein alles auf den ersten Blick preisgebender Schnappschuss.
Text von Patricia Hug
Ich bin viele, nur wie ist es möglich, diese Vielstimmigkeit auszudrücken? Kathrin Siegrist realisiert seit vielen Jahren Werke, Performances, Lesungen oder auch räumliche Interventionen. Selten geschieht dies alleine, sondern meist im Austausch mit anderen. Der eigene Name kann bisweilen hinter einem Kollektiv oder gar einer fiktiven Person verschwinden. Nicht das Individuum ist das Entscheidende, sondern das, was gemeinsam hervorgebracht und dabei zur Diskussion gestellt wird. Im Kunsthaus Baselland zeigt Siegrist einen Werkkomplex, der den gesamten Kabinettraum samt Decke einnimmt. An den Wänden ist eine Serie von Leinwänden ausgebreitet. Spuren und zeichnerische Gesten, die mal kräftiger, mal zarter sein können und bisweilen an fiktionale Schriftzeichen erinnern, werden erkennbar. Körper und ihre Bewegungen scheinen sich in den Leinwänden eingeschrieben zu haben und erzählen unter anderem von der Kooperation mit anderen Teilnehmern, die dieser Arbeit zugrunde liegt.
Gleich einer Partitur ziehen sich die Gesten, aber auch die geometrischen Formen über die Untergründe und korrespondieren zugleich mit der Architektur des Kunsthauses. Die Lichtdeckenkonstruktion mit ihrem regelmässigen Raster ist der Künstlerin Ausgangslage für eine weitere Intervention. MRI-Aufnahmen des Gehirns, die das Organ in einzelnen Querschnitten wiedergeben, liegen auf den Oberlichtern und scheinen diffus und doch sichtbar durch das Plexiglas. Beim genauen Betrachten und in Kenntnis des gesunden Organs zeichnet sich ein Störfaktor oder — wie es Siegrist nennt — ein «Parasit» auf dem Areal des Sprachzentrums ab. Gleichwohl er Teil des Organismus ist, wird er später entfernt, und zu Recht stellt sich die Frage: Was paralysiert hier wen?
Für Kathrin Siegrist ist der Körper als ein Hybrid und sich bewegender, aber auch verändernder Organismus seit Langem ein zentrales Thema. In diesen Zusammenhang fällt unmittelbar die Diskussion nach Sprache, Sprachentwicklung und damit auch Teilnahme oder Ausgrenzung im Sinne von Verständigung und Verständlichkeit. Welches Territorium lässt sich durch die Präsenz von Sprache, von Körper oder durch das ‹eigene Ich› behaupten? Welcher Machtapparat schreibt sich in Begriffe und Körper ein und urteilt über dieses Material? Lesen, Schreiben, Sprechen, Kommunizieren sind konstante Felder und Manifestationen, die es für Siegrist zu befragen gilt und lohnt.
Text von Ines Goldbach
Die Oberfläche schimmert im einfallenden Licht. Durch die Faltungen und die Bearbeitung des Untergrunds steht das hauchdünn wirkende Material leicht von der Wandfläche ab, an der es befestigt ist. Unzählige Schichten von Grafit hat der Künstler auf die Oberfläche einer gewöhnlichen Karte aufgebracht — einer zweiten Haut nicht unähnlich.
Oftmals verwendet Florian Thate industriell gefertigte Materialien. Meist unter hohem köperlichem Einsatz werden diese von ihm bearbeitet und dabei auch an ihre Grenzen geführt — wie viel physischem Krafteinsatz können die Gegenstände Stand halten, welche materielle Eigenschaft ist ihnen zu eigen? Für diese künstlerische Untersuchung werden von Thate Stoffe und Materialien wie Styrodurplatten, Gipskartonwände oder Wandverputz aufgekratzt, durchfurcht, aufgebrochen oder gepresst. Nach einem vom Künstler für sich selbst festgelegten Regelwerk bearbeitet und ergründet er die Materialien nach und nach; fast scheint es, als befrage Thate sie in ihrer Alltäglichkeit und bisweilen auch Banalität grundlegend und überführe sie in etwas Neues, Unbekanntes.
Im Fall der Maps legt Thate eine zweite Schicht aus Grafit über das verwendete Material. Seinem künstlerischen Prozess liegt eine systematische Durcharbeitung in Form einer Zeichnung zugrunde. In einem ersten Schritt füllt Thate die Fläche der Landkarte vollständig mit dem Grafitstift, um sie in einem zweiten Schritt umzudrehen. Anhand der gegebenen Faltung der Karte wird die Rückseite der Map mit einem Löffel bearbeitet. Durch den Prozess reisst und faltet sich der Untergrund, was für den Künstler nur noch teilweise kontrollierbar ist. Die entstandenen Arbeiten resultieren aus diesem Prozess des Schaffens, aber auch aus dem Zufall. Bereits zuvor hatte Thate ein architektonisches Element mit einer zweiten Grafithaut versehen. Nicht selten kommt es vor, dass die vorgefundene Architektur Voraussetzung für die Werkentstehung vor Ort und für den Ort ist. Es ist gerade der Faktor Zeit, der in Thates Schaffen eine wesentliche Rolle spielt — verlangt doch sein künstlerischer Vorgang nicht nur einen steten Kraftakt, sondern auch hinreichend Zeit, um ihn auszuführen.
Text von Ines Goldbach
Die Videoarbeiten des in Frankreich beheimateten britischen Künstlers Simon Welch erzählen Geschichten, die etwa mit dem Tod einer Eidechse in einem Weingebiet beginnen, danach aber zu einer Erkundung der Familie führen, zu einer Beziehung zwischen Mensch und Natur, stets mit erkundendem Blick. Pensionierte Bergarbeiter, übernatürliche Ereignisse, Vögel — das sind die Zutaten für seine Geschichten.
In seiner neuesten Arbeit, Time Capsule, spürt Welch dem Wunder des Lebens aus direkter Nähe nach. Es beginnt mit dem Blick auf die sich rasant verändernden Röntgenaufnahmen eines Fötus, gefolgt von dem langen Prozess des Wartens im Krankenhaus bis hin zum Durchschneiden der Nabelschnur des Neugeborenen. Eine komplizierte Geburt in einer französischen Geburtsklinik ist das Thema des Films; erzählend, als ein Zeitdokument für die Nachwelt. Trotz dieses wirklichen Ereignisses erforscht dieser Film das Bedürfnis des filmischen Realismus und der Ästhetik des Leidens, immer mit dem nachforschenden Blick, tief hinein in die eigene Familiengeschichte. Im Film sieht man die werdende Mutter, erschöpft, vor, während und nach der Geburt. Zu sehen sind die Pflegekräfte, deren Beruf es ist, Menschen in dieser besonderen Lebensphase zu begleiten. Gefilmt werden die Räumlichkeiten der Geburtsklinik — Ort des Aufeinandertreffens von Kontrolliertem und der Unberechenbarkeit der Natur. Versetzt ist der Film mit Erinnerungen an die Familie, mit Rückblicken auf Mutter, Vater, Grosseltern. Durch die Rückblicke schliesst sich der Kreis des Kommens und Gehens im familiären Rahmen.
Der Zuschauer findet sich vielleicht zu Beginn an den Film Window Water Baby Moving erinnert, an Stan Brakhages emotionalen und aufrüttelnden Kurzfilm über die Geburt seines Kindes. Doch Simon Welch geht einen anderen Weg. Der Kurzfilm Time Capsule ist ruhig und diskret, rational und intim. Der Film stellt und beantwortet Fragen nach der Herkunft, nach dem Hintergrund und den Wurzeln dieser Kinder, deren Leben eben erst den Anfang nimmt. Und nicht zuletzt erkundet Welch in diesem Film sich selbst, seine eigene Herkunft. Er verzichtet auf ein Stativ, er hält und führt die Kamera von Hand und erreicht so, dass sich sein Publikum mittendrin wiederfindet. Mittendrin in einer Geschichte über das Leben.
Text von Micha Gasser
Mit der Präsenz geht die Abwesenheit einher — die Bodenarbeit von Sebastian Wiemer im Kunsthaus Baselland zeigt grob gesprayte Kreidelinien auf dem Ausstellungsboden, die in ihrer Mitte unterschiedlich breite Leerstellen aufweisen. Es lässt sich rasch erahnen — dort lag etwas auf dem Boden, bevor die Linien darübergelegt wurden; was dies war, lässt sich weniger rasch nachvollziehen. Erst am Ende des Ausstellungsrundgangs ist die mehrteilige Fotoserie von Sebastian Wiemer zu sehen, die den Künstler in Aktion zeigt und damit auch die ‹Auflösung› der rätselhaften Fehlstelle bringt. Sein Vorhaben sei es, so der Künstler, eine lebendige Arbeit zu schaffen, die sich erst durch einen Reflexionsprozess des Betrachters entschlüsseln lasse.
Sebastian Wiemer beschäftigt sich seit seinem Studium mit der Gattung Malerei. Zentral ist dabei für ihn die Frage, wie man diese zweidimensionale Fläche auf der Wand noch stärker aktiveren, aufbrechen, rhythmisieren und letztendlich auch in den Raum weiterdenken kann. Selten ist es allein der Pinsel, den Wiemer für seine Malerei in die Hand nimmt. Es sind unterschiedliche Instrumente und Gegenstände, die er dabei hinzuzieht: etwa Gitter aus Armierungseisen, die in die farbgetränkten Oberflächen gedrückt werden. Abriebe interessieren ihn ebenso wie Abrisse oder Sprühbilder. Sebastian Wiemer geht es weniger um die Frage nach Abstraktion oder Monochromie — seine Malerei oder Aktionen, bei denen er malerische Mittel einbezieht, aktivieren nicht nur die Oberfläche, sondern vor allem das Umfeld, in welchem sie geschehen. Das Spontane und letztendlich Nichtkontrollierbare steht dabei für ihn im Vordergrund. Malerei ist für Sebastian Wiemer daher mehr ein Ereignis — ein Ereignis, das auch die umliegende Architektur mit seinen Böden und Wänden erfassen kann und dabei seinen speziellen Klang im Raum ermöglicht. Dass Wiemer in seinen neueren Arbeiten auch den eigenen Körper beziehungsweise das menschliche Mass in seine Malerei und Aktionen miteinbezieht, scheint eine logische Konsequenz aus dieser künstlerischen Erkundung.
Text von Ines Goldbach
Das dürfte einem bekannt vorkommen: Man möchte voller Vorfreude eine Ausstellung besuchen, muss dann aber erst einmal zur Kasse gehen, ein Ticket kaufen, Mäntel und Taschen abgeben oder darauf hoffen, ein freies Schliessfach zu ergattern. Dann erst kann man den Ausstellungsraum betreten — jetzt aber vielleicht mit einem anderen Gefühl als beim Eintreffen. Sophie Yerly fokussiert in ihrer Intervention für einmal auf das Bezahlen als Voraussetzung für das Eingelassen-Werden. Statt wie gewohnt vor dem Betrachten der Kunst ein Ticket zu lösen, werden die Besucher diesmal ungehindert eingelassen — und erst beim Verlassen der Ausstellung zur Kasse gebeten.
Die Künstlerin ist es gewohnt, sich mit Interventionen innerhalb von räumlichen, aber auch gesellschaftlichen Gefügen auseinanderzusetzen. Das Konzept der diesjährigen Regionale im Kunsthaus Baselland, aus deren Anlass der Parcours durch das Haus verändert, Eingang- und Ausgangssituation miteinander vertauscht wurden, ist für Yerly Voraussetzung für ihren Beitrag. Der veränderte Rundgang wird somit mit aller Konsequenz auf eine Umkehrung der normalen Abläufe innerhalb einer Ausstellungsinstitution zugespitzt. Das Aufsichts- und Empfangsteam des Kunsthaus Baselland wird dazu gebracht — noch stärker als sonst —, mit den BesucherInnen in Kontakt zu treten, um den neuen Sachverhalt zu erläutern. In diesem Fall allerdings erst am Ende jedes Ausstellungsrundgangs.
Sophie Yerly tritt seit einigen Jahren mal sichtbarer, mal weniger greifbar mit ihren Arbeiten, Interventionen oder Projekten auf. Ihre Performances und Aktionen können neben klassischen Ausstellungsorten auch schon mal in Räumen wie Hotelzimmern stattfinden. Kennzeichnend für sämtliche ihrer Arbeiten ist, dass Yerly weniger das fertige Werk denn der Prozess zum Resultat interessiert. Feststehende (gesellschaftliche) Gefüge hinterfragt sie stetig und wandelt sie in etwas Neues, Unbekanntes.
Text von Ines Goldbach