Sweet nothing

(Liege)Stätten des sommerlichen Nichtstuns

30.6. —
11.8.2002

Die Lounge als physische und konzeptionelle Stätte des mondänen Rückzugs — Die Ausstellung versteht sich als Recherchemedium der gesellschaftlichen Lounge-Befindlichkeit und ihrer Produkte. Ausgangspunkt war das als Mangel empfundene Nichtvorhandensein einer Kommunikationsecke im Kunsthaus Baselland. Um diesen nicht befriedigenden Zustand zu beheben, wurde in einem ausserordentlichen Kooperationsprojekt mit der Hochschule für Gestaltung und Kunst Basel der FHBB, Abteilung IN3, eine Lounge erarbeitet, die fortan einen integralen Bestandteil des Kunsthaus Baselland bildet.

Die Lounge ist in den letzten Jahren als populärer Ort für halbprivate Rückzüge innerhalb öffentlicher Räume in die kulturelle Landschaft zurückgekehrt. Während Trendforscher für die frühen 90er-Jahre einen radikalen Rückzug ins Privatleben unter dem Stichwort konstatierten, breitet sich, seit einigen Jahren anhaltend, eine Welle der Neuorientierung aus: das Private strebt in die Öffentlichkeit, aber weiterhin geschützt durch seinen nach aussen hin geschlossen wirkenden Charakter. «Man will sich in einer Lounge mit seinesgleichen unterhalten», sagt Francis Müller vom Trendbüro Hamburg. Dementsprechend sind Lounges häufig so gestaltet, dass einzelne Gruppen zwar in der Öffentlichkeit aber dennoch unter sich sein können. Die Zusatzbezeichnung weist viele Lounges als exklusiven, für Zugehörige bestimmter Interessensgemeinschaften gekennzeichneten Ort aus. Ausgangspunkt hierfür waren die Clubbings und Raves der 90er-Jahre, die für ihre TeilnehmerInnen nach Möglichkeiten zum Erholen und Entspannen nach durchtanzten Stunden suchten. Das so genannte loungen nannten vier von neun Befragten im Buch als eines der wichtigen Kriterien für ideale Raves: die Grundlage für die Verselbständigung des Verbs war damit geboren. «So entstand die Lounge als selbstständige Einheit — ein Vorraum ohne Fortsetzung, Vor- oder Nachspiel als Hauptprogramm.»

Vorbilder für die gegenwärtige Lounge-Gestaltung finden sich in zahlreichen Designentwürfen der 60er-Jahre. Allen voran müssen jene des dänischen Designers Verner Panton genannt werden. Seine weich anmutenden, bunten, verwinkelten Phantasielandschaften, welche der Künstler beispielsweise im Auftrag der Bayer Chemiewerke für die Ausstellung im Jahre 1970 geschaffen hatte, haben mittlerweile Kultstatus. Auch wenn die Bezeichnung damals noch keine Rolle spielte, waren ihre Ingredienzien bereits in vergleichbaren Projekten angelegt. Normales Sitzen auf herkömmlichen Stühlen galt als out, schräges Herumliegen, irgendwo zwischen der horizontalen und vertikalen Körperausrichtung hingegen war angesagt. Psychedelisch anmutende Farben, die zur heiteren Stimmung beitrugen, Anlehnungsmöglichkeiten an weiche Rückenlehnen und Sitznachbarn, Klamotten, Musik und berauschende Stimmungsmacher zählten zu den Kriterien des damaligen, sich im Design niederschlagenden Lebensgefühls und sind heute aktueller als je zuvor.

Wieder aufgegriffen in den letzten Jahren, entdeckte auch die Marktwirtschaft das Vermarktungspotential der Lounge. Musik-Lounge und Loungemusik, Lounge-Grafik, Lounge-Mode, Internet-Lounge, Film-Lounge und manch andere Einrichtungen und ihre dazugehörigen Attribute haben sich gegenwärtig als verkaufsfördernde Animierstätten etabliert. Der amerikanische Wissenschaftler Richard McKewen beschreibt dies folgendermassen: «More than just a place to drink, the cocktail lounge is practically revered by this lounge culture as a house of worship. And just as in a church, worshipers in this house of religion are expected to dress appropriately, behave in a certain manner, listen only to suitable music, participate in communion, and, perhaps most importantly, take away with them something of this experience. Now a popular and coopted by marked forces, has managed to make its way into numerous other realms: the Internet (lounge-sites around the web), the music industry, film and television, cuisine, fashion etc.» 


Die Ausstellung versteht sich als Recherchemedium der gesellschaftlichen Lounge-Befindlichkeit und ihrer Produkte. Ausgangspunkt war das als Mangel empfundene Nichtvorhandensein einer Kommunikationsecke im Kunsthaus Baselland. Um diesen nicht befriedigenden Zustand zu beheben, wurde in einem ausserordentlichen Kooperationsprojekt mit der Hochschule für Gestaltung und Kunst Basel der FHBB, Abteilung IN3, eine Lounge erarbeitet, die fortan einen integralen Bestandteil des Kunsthaus Baselland bildet. Im ehemaligen Industriebau mit Profilblechdecke weckte der balkonartige Vorsprung im Obergeschoss Erinnerungen an eine Veranda mit weiträumiger Aussicht. In ihren weiteren Überlegungen entdeckten die JungdesignerInnen das zu einem entspannenden Glücksgefühl auf der Veranda dazugehörige Element: die Schaukel. Die Schaukel selbst entspringt der Kreisform, die an die körperlichen Erfordernisse angepasst wurde. Wie bei zahlreichen zeitgenössischen Loungevarianten scheint auch bei diesem Entwurf — wenn auch unbewusst — ein Werk von 1968 Pate gestanden zu haben: Der so genannte von Eero Aarnio.

Während beim historischen Kultsessel die Reduzierung der Materialitätsfrage und die von Mies van der Rohe geprägte Formel «less is more» eine grosse Rolle spielte und demnach transparentes Acryl und Sitzpolster verwendet wurden, sind die Sessel der KHBL Lounge aus Polyethylen und zur Gänze mit einer Filzeinlage versehen, welche durch ihre Nicht-Transparenz eine persönliche Zurückgezogenheit gestatten. Die aus den genuinen Bedürfnissen des Kunsthaus Baselland resultierende Ausstellung suchte nach Kunstpositionen, welche das Thema der Lounge konzeptionell mitverorten können und fand spannende, oft transdisziplinäre Werke, die in mehreren Wissensgebieten beheimatet sind. Unter dem Schlagwort hat der Kunstdiskurs schon seit mindestens einem Jahrzehnt die enge disziplinäre Begrenzung aufgebrochen und dabei zur Kenntnis genommen, dass die Kunst Errungenschaften anderer Bereiche für sich selbst zu nutzen oder kunstimmanenten Recherchen anhand anderer Wissensgebiete zu überprüfen sucht.
Text von Sabine Schaschl

KuratorIn: Sabine Schaschl

Bulloch Angela G 2002 1
Angela Bulloch, Flexible at Club Berlin, 1994—1997, Sammlung Migros Museum für Gegenwartskunst

Angela Bulloch interessiert sich beispielsweise für den BetrachterInnenstandpunkt in Ausstellungen und indem sie diese zu so genannten bzw. Sitzpolster hinführt und sie zum gemütlichen einlädt, erreicht sie eine, wie sie es nennt «Relativierung der Objektautorität». «I’ve become bored by the conventions in museums and the errect authority of art objects. By lying down and looking horizontally it relativises the objects’ authority… I first used them for an exhibition at the Hamburger Kunstverein, because I needed a position for people to really sit and spend time. After that the use became more a structure within the work — a vehicle to engage with physically …»

Schwander Markus G 2002 1
Markus Schwander, Kautsch, 2002

Markus Schwander greift seit dem Jahr 2000 immer wieder auf die von ihm geschaffene Kaugummiskulptur zurück. In diversen Kontexten und Settings platziert, hat dieser Skulpturentypus schon längst sein Eigenleben bekommen und tritt als verselbständigtes, fiktives Element sowohl auf Modellwiesen, Gletscherspaltenmodellen und auf Gartenbänken auf. Der üblicherweise unter dem Mobiliar klebende oder erfährt bei Schwander durch die Transformation ins Grossformatige eine Übersetzung ins Irreale und erzeugt dabei einen Bruch mit der Realität. Im Kunsthaus Baselland ist die Skulptur auf einer abgenutzten Gartenbank, die auf einem Kiesbeet steht, angebracht. Die drei Elemente lassen Hemmungen, sich dem musealen Objekt zu nähern, gar nicht erst entstehen. Die sich zur Skulptur gesellenden RezipientInnen treten in ein kommunikatives Annäherungsverhältnis und teilen sich mit der Skulptur auch den für diese ausgewählten Sockel. Wie bei den von Bulloch greift auch Schwander auf den Standpunkt der BesucherInnen ein und situiert diese auf denselben Sockel.

Gordon Douglas G 2002 1
Douglas Gordon, Reading Room, 1996, Sammlung Migros Museum für Gegenwartskunst, Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2002

Wie Bulloch wählte auch Douglas Gordon für seine Arbeit von 1998 Sitzsäcke und kreierte zusätzlich unkomplizierte Tische aus Bierkisten und Holzplatten. Seine speziell für zusammengestellte Literatur- und Filmliste, gibt Einblick auf die auf seine Arbeiten einwirkenden Anregungsquellen. Ein für Gordon sehr wichtiges Buch ist zweifelsohne aus dem Jahre 1824 von James Hogg, auf welches Gordon u. a. in seinem Video von 1995/96 rekurriert. Darin entzieht der Künstler den Ton der Filmfassung von Robert Louis Stevensons Novelle aus dem Jahre 1886 und verlangsamt den Bildablauf; das Buch ist ebenfalls ein Element von. Hinzu kommen zahlreiche Filmeklassiker von Hitchkock oder Bela Lugosi, Philip Kaufman und zahlreiche weitere filmgeschichtliche Highlights sowie auserlesene Bücher aus den Bereichen der Literatur, Kunst und Film.

Luczynski Milos G 2002 1
Milosz Luczynski, Entropie 2010 Galactic Tour, 2001

Unkompliziert gestaltet sich auch die Lounge, die Milosz Luczynski kurzerhand für die Präsentation seines Videos einrichtete. Ein paar Sitzsäcke, Gästematratzen und zwei Standventilatoren unterstreichen die vom Video ausgehende Stimmung. Ein gemeinsam mit zwei weiteren Musikern (Johann Bourquenez und Artificiel aka DJ Cisco) gemixter Sound bildet die musikalischen Grundlage zum visuellen Mix aus vorgefundenen textuellen, grafischen und fotografischen, analogen und digitalen Bildwelten. Luczynski, der auch als Video- und Discjockey arbeitet und eine Ausbildung in grafischer Gestaltung besitzt, lässt in das aufgezeichnete Material zweier Live Performances (in Toulouse und Perpignan), Bild- und Tonmaterial, seine Eigenkreationen und wie er sagt «Wut gegen den verblödeten, rassistischen Teil der Menschheit» zusammenfliessen. Politische Haltungen scheinen gegenwärtig, wie in der Arbeit von Luczynski, eine neue Sprache aufzugreifen, welche Musik, Tanz, Bilder und Texte vermengt. Die RezipientInnen in die Videoarbeit hineinzuziehen, bezeichnet der Künstler als Zielvorstellung, die er mit der synästhetischen Wirkung multidisziplinärer Medien zu erreichen versucht.

Radi G 2002 1
RADI Designers, Sleeping cat, 1999, Privatsammlung

Kaminfeuer, Teppich und Katze — diese drei Elemente verbinden RADI Designers zu einer Objekt gewordenen Metapher für das heimelige Wohlfühlen. Ihrem roten, runden Wollteppich ist eine graue Hauskatze eingewebt und an anderer Stelle wächst ein roter Kamin heraus. Auch wenn letzterer mit künstlichen Seidenflammen und elektrischem Antrieb funktioniert, öffnen die drei Grundelemente jeweils individuelle geistige Schleusen, die beispielsweise an gemütlich verbrachte Stunden vor dem Kaminfeuer erinnnern.

Palla Ursula G 2002 1
Ursula Palla, Wolkenmaschine II, Part II, 2002

Mit der Phantasiewelt der RezipientInnen arbeitet auch Ursula Pallas Videoinstallation im Kunsthaus Baselland: Beim Betreten des Raumes umfängt uns eine nächtliche Wolkenstimmung, die sich langsam aufzuhellen beginnt. Gleichzeitig tritt Nebel aus, der die BesucherInnen von der Erde loslöst und über die Wolken hebt. Das Schweben in den Wolken, umgeben von Vögeln, Papier- und realen Flugzeugen, erinnert an Erfahrungen oder auch imaginierte Vorstellungen des Fliegens. Die Installation rührt stark an den Urwunsch, die Materialität der Wolken erforschen und ihre Weichheit spüren zu wollen, auch wenn unser kausales Denken längst schon Warnsignale sendet — würde doch ein tatsächliches Ausprobieren den sicheren Tod bedeuten.

Hayward Julie G 2002 1
Julie Hayward, TV-Baby, 2002

Julie Hayward verortet in ihren Skulpturen emotionale Parallelwelten. In ihrer neuesten Arbeit, nimmt sie die Realität zahlreicher Menschen unter die Lupe, deren Daheim-Sein sich in der vor dem Fernseher erschöpft. Das passive Sich-Zurückziehen auf das meist fiktive Geschehen am Bildschirm korrespondiert mit der auf einem Teppich liegenden Skulptur aus Herz, Box und Bildschirmteilen. «Die Wirklichkeit, die scheinbar erlebte Wirklichkeit ist so stark, dass sie (die Menschen) glauben etwas zu erleben, tatsächlich aber völlig paralysiert vor sich hinstarren ohne zu sich zu kommen», schreibt Hayward über die Vorgänge beim Fernsehen.

Walthert Bendicht G 2002 1
Bendicht Walthert, 1,25 Meter über Meer, 2002

Wie Hayward greift auch Bendicht Walthert in seinem Fotoscan 1,25 Meter über Meer ein psychologisches Stimmungsbild auf. Drei ineinander verkeilte Menschen, die sich auf der Wiese liegend entspannen und dabei verschiedenen philosophischen Gedanken nachhängen, thematisieren Möglichkeiten des sommerlichen Nichtstuns. In Gedankenblasen lässt uns der Künstler an den Überlegungen der Personen teilhaben: «Hi, hi, hi, bald kommt die Flut», denkt die Frau im Vordergrund, «Ich lege mich, also liege ich», denkt der Mann in der Mitte und «O Liebe, liege, was die Liege hält, so sprach der Wind zur See, halb zog sie ihn, halb sank er hin und ward nicht mehr gesehn» denkt die zweite Frau. «Es geht also um das Liegen, das Eintauchen, Träumen, um den Schlaf, den z. B. Hölderlin in einem seiner Gedichte als den kleinen Bruder des Todes bezeichnet», so der Künstler in einem e-mail.

Flushlab G 2002 1
flushlab, melanie. lui-lei, 2002

Zwei Prototypen neuer Designvorschläge stellt die Designergruppe flushlab vor. Ein Mehrzweckmöbel, hat die Fähigkeit sich von einer Rückenlehne, die vorzugsweise auf einem Teppich platziert ist, in einen Hocker oder einen Tisch zu verwandeln. Die Liege erlaubt durch ihr Format und Linienführung längerfristiges Verweilen. Klare Linien, Funktionalität und der präzise Einsatz von Formen und Materialien charakterisieren die Designprinzipien von flushlab.

Edwards Jeremy G 2002 1
Jeremy Edwards, Chaise Longue, Paris, 1997

Der Designer Jeremy Edwards ging dem Design des Alltags nach und hielt in verschiedenen europäischen Metropolen mit dem Fotoapparat fest. Die vorgefundenen, meist mit wenigen Handgriffen entstandenen anonymen Objekte zeugen von einem funktional orientierten Kreativitäts-Bewusstsein von Menschen, die auf ihre unmittelbare Umgebung reagieren. Die Fotografien präsentieren ephemere Spuren dieser Interaktivitäten, die auch ästhetische Kriterien nicht ausblenden. Zwei quadratische Mauervorsprünge beispielsweise, können durch einen weissen Farbanstrich zu zwei Sessel werden — es genügt die Rückenlehne zu markieren und sie mit der Sitzfläche zu verbinden, wie dies die Fotografie aus Barcelona bestätigt. Diese geistig-konzeptionelle Designgestaltung steht einer Attitüde gegenüber, die unter anderem im Reifen-Hocker aus Rom zur Geltung kommt. Die Fotografien visualisieren den atavistischen, ureigenen Wunsch nach Sitzen, Entspannen und Ausruhen.

Lb G 2002 1
L/B, Beautiful window #2, 2002

Wenn die Künstlergruppe L/B eine spezifische Fensterglasmalerei für die Ausstellung konzipiert, so spielen dabei die für ihr Gesamtwerk wichtigen Überlegungen zu Formen, Materialien und Farbkombinationen eine grosse Rolle. L/B, die für ihren täglichen Tapetenwechsel einen neuen Bildschirmhintergrund entwickeln, tun dies nicht zuletzt zur Steigerung ihrer eigenen Befindlichkeit.

Golz Dorothee G 2002 1
Dorothee Golz, I like your smell too, 2002

Speziell für das Kunsthaus Baselland produzierte Dorothee Golz eine Möbelobjektgruppe, die gleich mehrere Sinne gleichzeitig anspricht. Die farbig bunten Oberflächen sind mit Porträtzeichnungen gekoppelt, die der haptischen Erfahrung eine narrative hinzufügt. Golz spielt mit den Sehnsuchtsvorstellungen der RezipientInnen, die sowohl die Zeichnungsinhalte (beispielsweise ein sich berührendes Paar) nachempfinden, als auch den Appell an den Gaumen aus den eigenen Erfahrungen des Bonbon-Lutschens nacherleben können. Die mit Calvados gefüllten Gläser auf den Tischmöbeln schlagen eine Brücke zum Titel, der mit dem Wort a priori eine Dialogsituation impliziert. «Es geht mir darum, Aspekte sichtbar zu machen, die in den Gegenständen und auch in menschlichen Handlungen versteckt formuliert sind; Aspekte, die sich hinter der Offenkundigkeit der Dinge — was häufig deckungsgleich mit ihrer Funktionalität ist — verbergen.» Der kommunikative Charakter, der die Arbeiten der Künstlerin häufig auszeichnet, wird nicht zuletzt durch jenen Ansatz des erst freigelegt.

Deutschbauer Spring G 2002 1
Julius Deutschbauer / Gerhard Spring, Bibliothek der ungelesenen Bücher, 1997—2000, Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2002

«Vier Fünftel der Menschen lesen ein Buch im Liegen», erklärt Julius Deutschbauer in seiner im Kunsthaus Baselland gehaltenen Einführung in sein 1997 begonnenes Projekt der. Das bereitgestellte Canapé, das mit weiteren Fauteuils und einem Tisch Bestandteil der Bibliothek ist, trägt diesem Rechercheergebnis Rechnung. Deutschbauer versteht sich als Kammerdiener, der mittlerweile auf zahlreiche Ausstellungen verweisen kann und somit selbst eine Biographie bekommen hat. In Interviews mit nach persönlichen Sympathien ausgewählten Personen erfragt Deutschbauer das ungelesene Buch des Interviewten und hält als eine Art Verbindungsstelle mit der Aussenwelt das Wetter zum Zeitpunkt des Interviews fest — ein Unterfangen, welches er mit der Bibliothekarsfigur in Elias Canettis teilt. Die mittlerweile zahlreichen nach den Interviews angekauften Bücher in der Bibliothek sind nach den Namen derjenigen geordnet, welche das Buch zum Zeitpunkt des Interviews ein- oder mehrmals noch nicht gelesen hatten. Julius Deutschbauer siedelt seine Bibliothekarsrolle irgendwo zwischen den Modellen des Oberbibliothekars in Musils und des Quäkerbibliothekars in Joyces an; also zwischen dem oberflächlichen Wissen über Titel und Inhaltsverzeichnis und der höchsten Pflichterfüllung. Sein präzise durchgeführtes Projekt gibt Aufschluss über eine Phänomenologie des Lesens, die bis heute noch nicht geschrieben wurde. Seit einigen Jahren arbeitet Deutschbauer zusammen mit Gerhard Spring an diversen, der Bibliothek zugehörigen Projekten. Ein solches ist das so genannte, das insgesamt zum zweiten Mal im Kunsthaus Baselland durchgeführt wird. Tonlose Videos mit laufenden Textzeilen, ein Mikrophon und Lautsprecher stehen den BesucherInnen zur Verfügung, um die eigenen Lesekünste laut zu erfahren. Die von den verschiedensten Quellen stammenden Textzeilen sind Unterhaltung, Dekor und Mitteilung in einem. Mit Aphex Twin formuliert: «Ich liebe Stimmen, aber nur sparsam und am liebsten so, dass man sie nicht versteht. Ich sehe sie als abstrakte Gemälde.»