The Need to Document
19.3.
—
1.5.2005
Ein Projekt von Vit Havranek, Sabine Schaschl-Cooper und Bettina Steinbrügge. Eine Kooperation zwischen tranzit, Prag, Kunsthaus Baselland, Muttenz/Basel und Halle für Kunst, Lüneburg.
In den letzten Jahren hat in der zeitgenössischen Kunst eine verstärkte Hinwendung zum Dokumentarischen stattgefunden. Ausstellungen, wie die Documenta11 oder True Stories am Witte de With in Rotterdam, Vortragsreihen, wie Dokumentarische Strategien in der Kunst am MUMOK in Wien und zahlreiche Biennalen, wie die Manifesta 5 präsentierten eine steigende Anzahl dokumentarischer Werke, über deren spezifischen Charakter nur selten reflektiert wurde. Zahlreiche Filme und Videoinstallation, ebenso wie Fotografien und Werke der Konzeptkunst orientieren sich einerseits am Lebensalltag, versuchen sowohl sozial- und kulturpolitische Ereignisse, historische Rückblicke, wie auch private Momente dauerhaft und mit einem Aufklärungsanspruch festzuhalten. Andererseits untersucht eine zweite Strömung des Dokumentarischen in selbstreflexiver Weise ihre eigenen Mittel als sozial konstruiert. Die jüngsten, die Welt erschütternden politischen Ereignisse, wie der Anschlag auf das World Trade Center, der Irak-Krieg, der zunehmende Rechts-Rutsch vieler europäischer Regierungen, die Problematik der Asylsuchenden haben die seit den 1990er-Jahren geführten Debatten über eine Re-Politisierung der Kunst neuerlich angeheizt. Mehr als ein Jahrzehnt nach dem Fall des Eisernen Vorhangs besinnen sich zudem zahlreiche Künstler aus den sich transformierenden Ländern Osteuropas auf ihre eigenen historischen, kunsthistorischen und sozio-kulturellen Wurzel und bilden von diesen ausgehend, neue Verbindungen zur Gegenwart, die mit einer dokumentarischen Haltung zum Ausdruck gebracht werden.
Der begrifflichen Bestimmung des Dokumentarischen entspricht der juristische Diskurs, welcher im Dokument eine Beglaubigung bzw. ein Beweismittel für Wahrheit erkennt. In vergleichbarer Weise steht hinter der zeitgenössischen dokumentarischen Kunstproduktion der Anspruch nach Objektivität und Wahrheitstreue; der Versuch, so nahe als möglich an die Realität heranzukommen und die Absicht, die Art und Weise der Entstehung eines Werkes offen zulegen. Die Bezeichnung dokumentarisch kann für ein visuelles, textuelles oder akustisches Erzeugnis angewendet werden. Das Dokumentarische vereint Gegensätzliches: Politisch / Öffentliches sucht ebenso nach dokumentarischen Mitteln wie Privat / Intimes. Die Selektion der in der Ausstellung gezeigten Beiträge fokussiert auf Werke, die nach einem dokumentarischen Zugang zur Formulierung ihrer Inhalte verlangen. Nicht berücksichtigt sind Arbeiten, in denen das Dokumentarische lediglich Abbildung einer Aktion oder einer Performance ist. The Need to Document versucht sowohl die Hintergründe, die das Dokumentieren bestimmen, als auch die Themenschwerpunkte und das Anliegen, welches eine dokumentarische Haltung auszeichnet, aufzuzeigen; die Ausstellung sucht und untersucht das genuin Dokumentarische, also jenes Charakteristikum, welches sich in seiner Form als ontologisch unveränderbar formuliert.
Text von Sabine Schaschl
Die Recherchen für Azorros Werke umkreisen häufig das Thema von kunstbetrieblichen Mechanismen. Der Film Everything has been done der polnischen Künstlergruppe Azorro zeigt die vier Künstler bei der Konzeptionierung einer neuen Arbeit. Die Rahmenbedingungen des Kunstmachens, die von einer konkreten gesellschaftlichen Realität geprägt sind, stehen im Mittelpunkt der fiktiven Dokumentation, die ebenso auch authentisch sein könnte. Wie sehr Realität konstruiert sein kann, wird vor allem ersichtlich dadurch, dass das Vorgegebene und Dokumentierte ebenso wahr wie unwahr sein könnte. Die Pseudo-Dokumentation ist also selbst das Konzept, und thematisiert auf humorvolle und selbstironische Weise künstlerisches Scheitern auf der Suche nach Innovativität («And a horse?» — «It has been done already»...). Spielerisch und nicht ohne Sarkasmus lassen uns die Künstler am kreativen Prozess zwischen Dokumentation und Inszenierung teilhaben.
Zbyněk Baladrán sammelt heterogenes Filmmaterial aus unterschiedlichen öffentlichen und privaten archivarischen Quellen und moniert daraus Dokumentarfilme. Das Ergebnis bezeichnet er als eine Art «nicht eingreifende Archäologie», bei der das Dokumentarische keinen bestimmten Richtlinien oder Strategien unterliegt, sondern ein individuell geprägtes, vom Zufall und subjektiver Auswahl bestimmtes Bild der Vergangenheit abgibt.
Zwischen Dezember 2001 und April 2002 haben Big Hope ca. 30 seit einigen Jahren in Turin lebende Migranten getroffen und sie gebeten, für ihr Kartographieprojekt Reroute Fotos von den Orten in Turin zu machen, die von persönlicher Relevanz für sie sind. Aus den geführten Interviews und dem gesammelten Fotomaterial entstand eine mentale Landkarte von Turin in Form einer Installation und interaktiven DVD, in der die BesucherInnen sich mit den individuellen Zeugnissen von Stadterfahrung und den dazugehörigen persönlichen Kommentaren auseinandersetzen können.
In ihrer Dokumentation Europlex untersuchen Ursula Biemann / Angela Sanders diverse ‹grenzüberschreitende› Aktivitäten im spanisch-marokkanischen Grenzgebiet. Mit der Methode des Videoessays versuchen Biemann / Sanders die obskuren Wege und Vorgänge sichtbar zu machen, die sich täglich in einem ständigen Kreislauf am Checkpoint der spanischen Enklave abspielen: Schmugglerinnen, die Kleidung in mehreren Schichten am Körper über die Grenze transportieren, ‹Domesticas›, die sich wie Zeitreisende zwischen der marokkanischen und der europäischen Zeitzone hin und her bewegen, und marokkanische Frauen, die in den transnationalen Zonen Nordafrikas für den Europäischen Markt arbeiten. Die Installation integriert eine großformatige Landkarte der sozio-politischen Geografien und Aufnahmen von Überwachungskameras an der Grenzzone.
Mircea Cantor interessiert sich in seiner Arbeit mehr für Produkte, die einem möglichst breiten Publikum frei zur Verfügung stehen und als subtile Irritationen im öffentlichen Raum fungieren, als für traditionelle Kunstwerke im musealen Kontext. Das Video Double Head Matches zeigt das ‹making of› einer Arbeit von 2002, für die Cantor eine Edition von Streichholzschachteln — das klassische Werbegeschenk überhaupt — herstellen ließ. Die in seiner Heimat Rumänien produzierten Streichhölzer hatten jedoch zwei Brennköpfe — eine Eigenheit, die dem Gebrauchsgegenstand eine absurd-symbolische Präsenz verleiht. Das Video dokumentiert die speziellen Umstände, unter welchen die Streichhölzer hergestellt wurden. Es ist also zugleich ein traditioneller Dokumentarfilm, der die Abläufe in der Streichholzfabrik aufzeigt, aber auch das Video von einer künstlerischen Produktion — eben der doppelköpfigen Streichhölzer. Die zweite Arbeit We live with besteht aus Postern zur freien Distribution. Das Motiv, ein rumänisches Kinotheater aus den 80er-Jahren, dokumentiert ebenfalls Wandel und Stillstand in Rumänien. Während sich das Kinoprogramm heute Richtung Hollywood orientiert, sind die alten Namen wie «Patria» als Überbleibsel einer vergangenen Zeit erhalten geblieben.
Für diese Serie von klassischen Dokumentarfotografien porträtierte Jens Haaning Einwanderer der ersten Generation in Kopenhagen im Stil von auf möglichste Authentizität bedachten ‹Street Fashion›-Reportagen, wie man sie aus Lifestile Magazinen kennt. Darin werden hippe junge Städter befragt, welche Marken sie tragen und wie viel sie für jedes Kleidungsstück bezahlt haben. Durch Haanings persönliche ‹Fashion Portraits› von sozialen Randgruppen werden die dargestellten Personen aus ihrer gesellschaftlichen Anonymität herausgelöst und als Individuen unter einem neuen Blickwinkel wahrgenommen.
Johanna Kandl malt Bilder nach Fotografien, die während zahlreicher Reisen, vorwiegend in ost- und südosteuropäischen Ländern wie Aserbaidschan, Rumänien, Georgien oder der Ukraine, entstanden sind. Das Übertragen dieser scheinbar beiläufigen Schnappschüsse des Alltäglichen und Intimen in das Medium der Malerei führt zu einem Prozess der Verlangsamung und Bewusstmachung. Durch zusätzlich eingefügte Schriftzeilen, die als plakative Slogans getarnt verschlüsselte Hintergrundinformationen oder persönliche Statements beinhalten, entsteht eine Art dokumentarischer Hyperrealismus. Kandls Arbeiten thematisieren unterschiedliche politische, ökonomische, soziale und kulturelle Perspektiven im globalisierten Europa von West auf Ost und umgekehrt.
Joachim Koester verbindet in seinen essayistischen Fotoserien Geschichte, Fiktion und Realität bestimmter Landschaften und Orte, die aus verschiedenen Gründen historisch, literarisch oder cineastisch aufgeladen sind. From The Travel of Jonathan Harker beschreibt eine Reise durchs heutige Transsylvanien auf Bram Stokers Spuren, bei der die Ruinen postkommunistischer Realität und Spuren der Ausschlachtung der Landschaft durch eine korrupte Tourismusindustrie an die Stelle von Stokers düster-romantischer Imagination getreten sind. In The Kant Walk wandelt Koester auf den Spuren des Philosophen Immanuel Kants, auf den in seinem ehemaligen Wohnort Königsberg (Kaliningrad) aufgrund der sowjetischen Ausradierungspolitik kaum mehr Hinweise zu finden sind.
Die Videoinstallation 10104 Angelo View Drive von Dorit Margreiter bedient sich dokumentarischer Strategien, um diese in Verbindung mit einer filmischen Architektur — der futuristisch anmutenden, spätmodernistischen Hollywoodvilla von John Lautner unter gleichnamiger Adresse, die u. a. die Kulisse zu Filmen wie The Big Lebowski abgab — mit ihren fiktionalen Grundlagen zu konfrontieren. Die Statik der Kamera wird durch die Dynamik der Architektur konterkariert, und der Objektivitätsanspruch der filmischen Aufzeichnung dadurch so fragwürdig wie das Objekt selbst. Ein zentrales Detail in dieser vollautomatisierten Wohnlandschaft ist ein auf Knopfdruck in seinem Betonsockel versenkbarer TV-Screen. Als fiktive Irritationsmomente wurden kurze Sequenzen von Performances der kalifornischen Performancegruppe Toxic Titties in das sonst dokumentarische Filmmaterial geschnitten.
The list of the wish ist eine archivarische Liste ausgewählter CD Titel, die sich der Künstler selbst wünscht. Boris Ondreicka bietet die Wunschliste der Institution als künstlerisches Konzept an, demzufolge die Institution je zwei Stück der CDs zu kaufen hätte — ein Exemplar bekäme die Institution als künstlerisches ‹ready-made›, die andere bekäme der Künstler zum eigenen Genuss. Die Arbeit besteht aus drei Teilen: der Titelliste, einem Vertrag zwischen Künstler und Institution, und den erworbenen CDs. Die Arbeit funktioniert aber auch unabhängig von ihrer Umsetzung (die in den meisten Fällen wohl an Budgetgründen scheitern wird) als konzeptionelle Arbeit, die Fragen nach künstlerischer Urheberschaft, privater Ökonomie, Logistik und Marktstrategie aufwirft, zugleich aber auch eine poetische Dokumentation persönlicher Musikvorlieben ist.
Kirsten Pieroths jüngste Werke fokussieren auf das Thema Erfindung und speziell auf die Figur von Thomas A. Edison. Edison’s Workbench versucht einen Auszug aus dem Lebensalltag des Erfinders nachzuerzählen und mittels der nachgebauten Werkbank räumlich erfahrbar zu machen. Als Vorlage für die Rekonstruktion diente eine Photographie, die Edison auf seiner Arbeitsbank schlafend darstellt. Die Photographie ist mit Edisons Unterschrift versehen, welche allerdings die Fälschung eines Mitarbeiters ist. Pieroth hinterfragt Legende und Historie und nähert sich der Person Edisons zwischen Authentizität und Fiktion an. Die Installation Working Without News besteht aus dem Original der von Edison erfundenen ersten Kopiermaschine — die bis zu 2000 Blätter kopieren konnte — und einigen auf dieser Maschine kopierten Blättern. In Bezugnahme auf den Austragungsort der Manifesta 5 wählte die Künstlerin ein historisches Dokument eines Kabeljaufischers aus San Sebastian, der täglich denselben Satz «Working without news» ins Logbuch eintrug.
Der Film Venezuela von unten von Oliver Ressler und Dario Azzellini ist ein Kunstdokumentarfilm, der die seit der Regierungsübernahme von Hugo Chávez 1998 in Venezuela stattfindende soziale Transformation untersucht. Und dabei v. a. die Selbstorganisation und Eigeninitiative von Bauern und Arbeitergruppen herausstreicht, die in den letzten Jahren tief greifende Reformen z.B. der Verfassung, des Arbeitsrechts oder Bildungswesen bewirken konnten. Die Künstler lassen in ihrem Film verschiedene Kooperativen und ProtagonistInnen von der Basis zu Wort kommen, die von ihren individuellen Projekten, den damit erreichten Veränderungen in ihrem Land, aber auch von den während dieses Prozesses erfahrenen Schwierigkeiten berichten.
In seinem jüngsten Projekt untersucht der Künstler Hinrich Sachs die Selbstpräsentation des Kinderfilmformats Sesamstrasse, das sich auf der hauseigenen Website als «nonprofit educational organization» präsentiert. In Wirklichkeit funktioniert das Unternehmen jedoch durch ein ausgeklügeltes Franchising System und profitiert durch den einseitig gewinnbringenden Verkauf von Rechten für die kulturelle Adaption von Figuren an unterschiedliche Länder wie z. B. Mexiko, Südafrika, Ägypten oder Russland. (So gibt es in der südafrikanischen Version der Kinderserie z.B. die Figur Kami, die HIV positiv ist). Die Installation Kami, Cookiemonster, Bert and Ernie (All Together Now) besteht aus einem ortsbezogenen Wandbild und fünf freistehend aufgestellten Kostümen, die auf Figuren aus der Sesamstrasse zurückgehen, die zum Teil fest zum kollektiven kulturellen Gedächtnis gehören, zum Teil aber auch nationalspezifische Neukreationen sind. Der Künstler hinterfragt in seiner Arbeit das Copyright, indem er einerseits in Form von Appropriation die Figuren nachempfindet, andererseits das Konzept der Interpretation weiterverfolgt, in dem er das bildliche Vokabular der Sesamstrasse-Website im Wandbild dem jeweiligen Ausstellungsort — in diesem Falle Basel — anpasst. Ökonomische Bedingungen werden so durch Offenlegung einer nicht öffentlichen Konzernstruktur transparent gemacht. Die Wandarbeit O. T (Zukunft) thematisiert ebenfalls ökonomische Fragen des Urheberrechts und künstlerischer Neubewertung.
Jiri Skala überträgt in seiner Arbeit komplexe soziale Zusammenhänge in möglichst einfache, minimal-konzeptionelle Formen. Für The Volumes of My family hat er die individuellen Körpermasse aller Mitglieder seiner Familie auf die Volumen geometrischer Behältnisse umgerechnet, und so ein minimalistisches Vokabular für persönliche Informationen entwickelt. Ruler ist eine Edition von Linealen, deren Maßeinheiten jedoch kaum merklich manipuliert sind, so dass sich bei der Benutzung die genormten Dimensionen langsam aber unweigerlich verschieben würden.
Olivier Zabats Dokumentationen operieren subtil auf den Schnittstellen von globaler Problematik und persönlichen Schicksalen. Die bestehen meist aus verschiedenen ‹Recherchemodulen›, die wie autonome Kurzfilme mit eigenen Titeln aneinandergesetzt sind. Zabat folgt dabei seiner subjektiven Motivation und lässt sich bei seinen Recherchen über Querverweise von einer Story zur nächsten führen. Bei La Femme… bildete das Interesse am Kontrast zwischen Körperkult und Gewalt im Alltag der brasilianischen Gesellschaft den Ausgangspunkt. Dieser führte ihn von den Favelas zum Strand und schliesslich zu einer Trilogie, von der im KHBL die subtilste Arbeit zu sehen ist. Auf den ersten Blick ein poetisch wirkendes Dokumentarstück, welches brutalste Gewaltübergriffe von Männern auf junge Frauen in scheinbar lockerer Erzählweise vermittelt.