Golden Agers and Silver Surfers

Old age and aging in contemporary art

9.8. —
4.10.2009

Die Ausstellung Golden Agers & Silver Surfers hat zwar eine bestimmte Alters- bzw. Zielgruppe zum Thema, entwickelt aber einen Dialog, der alle Menschen mit einbezieht. Das Alter ist ein gesellschaftlich relevantes Phänomen, dem das starke Potential der Kunst zu einer neuen Bildhaftigkeit verhilft. Im bildnerischen Schaffen unserer Zeit spiegeln sich die Wünsche und Sehnsüchte des Menschen. Gleichzeitig formulieren die Kunstwerke etwas Eigenes, vielleicht auch Fremdartiges, das dieser gesellschaftlichen Realität entgegengesetzt wird.

Die demographische Relevanz der überalterten abendländischen Gesellschaft ist gegeben. Der Mensch erreicht ein immer höheres Alter. Er bleibt länger gesund und aktiv. Und er fordert für diesen sogenannten dritten Lebensabschnitt immer eigenständigere Lebensformen. In 20 Jahren werden auch die Babyboomer in Pension gehen. Die westliche Gesellschaft wird voraussichtlich zur Mehrheit von Menschen gebildet, die über 60 Jahre alt sind. Wer heute geboren wird, erreicht Prognosen zufolge mit 50 Prozent Wahrscheinlichkeit das Alter von 100 Jahren. Wie sieht die Zukunft der Menschen aus, wenn sie immer älter werden? Vieles deute darauf hin, so prognostiziert der Zukunftsforscher David Bosshard, dass die Erfinder der Jugendkultur auch zur Gründergeneration einer neuen Alterskultur werden. Sicher ist bereits heute, dass die künftigen ‹Senioren› eine vollkommen neue Wirklichkeit erleben: Sie wollen auf keinen Fall alt werden und haben sich einem rigorosen ‹Power Aging› verschrieben. Sie führen ein aktives Leben und sind sportlich. Sie reisen, sie konsumieren, sie pflegen ihren Körper und sie haben sich mit der Prämisse der kompetitiven Schönheit im gleichen Masse auseinanderzusetzen wie jüngere Menschen.

Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts besass das Alter als künstlerisches Thema einen festen Platz in der Kunstgeschichte. Schliesslich stand ein hohes Lebensalter für Werte wie Erfolg und Weisheit. Wer es schaffte, alt zu werden, war erfolgreich, intelligent oder schlau und hatte dank grösserer Lebenserfahrung einen gesellschaftlichen Image-Gewinn. Die Abkehr vom Bild des Alters in der Kunst hat allerdings bereits in der Renaissance eingesetzt: Die Hinwendung zum Diesseits war nicht nur verbunden mit der Säkularisierung der Kultur, sondern auch mit einer zunehmenden Verherrlichung der Jugend. Trotzdem portraitierte Hans Holbein d. J. den damals bereits 88-jährigen John Chambers, seines Zeichens Hofarzt des englischen Königs: ETATIS SUE 88 lautet der prominent ins Bild gerückte Hinweis auf das Alter des Promi-Arztes. Im Venedig des 16. Jahrhunderts verhielt es sich gar so, dass das Alter mehr bedeutete als jeder andere Lebensabschnitt. Das Altehrwürdige bestimmte die meisten Einrichtungen des Staatswesens und bildete sich auch in einer grossen Zahl von Gemälden ab, die damals in der Lagunenstadt entstanden — besonders eindringlich in einem Bild von Tintoretto, Alter Mann und Knabe. Seit der klassischen Moderne und vor allem seit dem Aufbruch der 1968er-Generation ist das Alter fast komplett aus der Ikonographie der Kunst verschwunden — paradoxerweise im Gegensatz zur gesellschaftlichen Virulenz der Thematik.

Die breit und international angelegte Ausstellung Golden Agers & Silver Surfers versucht, vor allem mit jüngeren Künstlerpositionen auf jene Diskrepanz aufmerksam zu machen. Sie zeigt Arbeiten, die sich essayistisch oder symbolisch mit der Sterblichkeit befassen (Gabriela Gyr, Melli Ink, Bruno Jakob), ebenso wie mit den Alterungsprozessen (Charlie White, Julika Rudelius, Keren Cytter), die sich das Alter in jungen Jahren — quasi wörtlich — auf den Körper schreiben (Miwa Yanagi), die sich mit Institutionen der Gesellschaft auseinandersetzen, die für den alten Menschen geschaffen wurden (Anna Winteler, Thomas Müllenbach) oder den individuellen und persönlichen Eigenheiten von Alter auf die Spur gehen (Gitte Villesen). Dass es fürs Altwerden neue Vor-Bilder geben muss, ist schliesslich im Werk einer jungen Maler-Generation eingeschrieben. Paul Pretzer und Ryan Mosley befreien das Thema Alter mit frischem Pinselschlag und heiterem Augenzwinkern aus der ikonografischen Marginalisierung.

KuratorIn: Christoph Doswald und Sabine Schaschl

Cytter Keren G 2009 1
Keren Cytter, Der Spiegel, 2007, Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2009

Der Film Der Spiegel von Keren Cytter (*1977 in Tel Aviv/ISR, lebt in Berlin) zeigt die Konfrontation einer Frau um die 40 mit ihrem älter werdenden Körper. Eben sich noch als Mädchen fühlend, zeigt ihr das Spiegelbild und die verlautbaren Stimmen dreier weiterer Frauen, dass diesem Gefühl nicht zu trauen ist. Vielmehr soll sie sich mit ihrem langsamen Älterwerden auseinandersetzen. Die Sehnsucht nach einem jungen Körper und nach der Liebe eines Mannes stehen im Mittelpunkt des Films. Die anderen Frauen kommentieren jene Gefühle und wollen die Protagonistin immer wieder manipulativ beeinflussen. Als ‹Stimme› einer unerbittlichen Gesellschaft reissen sie die Frau emotional hin und her. Das Geschehen spitzt sich zu, als zwei Männer auf den Plan treten. Keren Cytter lässt die theatralisch inszenierte, verdichtete Situation in einem fast leeren Raum stattfinden. Als Requisiten dienen Spiegel und die Kamera selbst. Die Blicke und Kommentare der Anderen treten als gesellschaftliche Instanzen auf. Immer wieder zerfällt die Selbst- und Fremdwahrnehmung der Protagonistin; das Verhältnis des Individuums zur sozialen Umgebung wird als ständiges Kollabieren in Szene gesetzt.
Text von Sabine Schaschl

Graf Manuel G 2009 1
Manuel Graf, Über die aus der Zukunft fliessende Zeit, 2006, Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2009

In seinem Video Über die aus der Zukunft fliessende Zeit porträtiert Manuel Graf (*1978 in Bühl/Baden/DE, lebt in Düsseldorf) seinen ehemaligen Lehrer Ekkehard Wallat, der über die Evolutionstheorie von O.H. Schindewolf, einen Zeitgenossen Darwins, referiert. Wallat erklärt den Alterungsprozess der Menschheitsentwicklung auf der Basis der Ausprägung von Kinder- und Erwachsenenschädel der Spezies Australopithecus, Pithecanthropus, Neanderthaler und Homo Sapiens. In der jeweiligen Spezie verläuft die Entwicklung vom Kinder- zum Erwachsenenschädel linear, d.h. von fein und klein hin zu grob und ausgeprägt. Vergleicht man jedoch einen Erwachsenenschädel des Australopithecus mit jenem eines Homo Sapiens, so verhält es sich umgekehrt. Letzterer wirkt im Vergleich zum Australopithecus wie ein Kinderschädel, weshalb von einer ‹Verjüngung› gesprochen wird. Im zweiten Teil des Videos erklärt Ekkehard Wallat dieselbe Theorie anhand von Pflanzenentwicklungen und fasst zusammen, dass die Zeit in zwei Richtungen fliesst, einerseits ins Älter- und andererseits ins Jüngerwerden. Manuel Graf illustriert das Referierte mit grafischen Animationen, die sich an manchen Stellen zu verselbständigen scheinen. Ebenfalls animiert ist das Intro der Videoarbeit, bei welcher das Falling Water House von Frank Loyd Wright auf die Düsseldorfer Theodor-Heuss-Brücke und diese wiederum auf das Ledoux‘sche Flusswärterhaus trifft. Das Fade Out des Video ist bestimmt vom Song I’m going back to the start von Coldplay — passend zur evolutionären Verjüngung bei gleichzeitigem Älterwerden der Menschheit.
Text von Sabine Schaschl

Von Felten Regine G 2009 2
Regine von Felten, Pilze haben keine Blätter, 2007, Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2009

Seit 2004 arbeitet Regine von Felten (*1980 in Thun, lebt in Thun) regelmässig mit ihrer an Altersdemenz leidenden Grossmutter an dem erweiterten Fotoprojekt Pilze haben keine Blätter. Die Künstlerin fotografiert dafür in unregelmässigen Abständen die Umgebung der Grossmutter und bringt ihr die Abzüge bei Besuchen ins Altersheim mit. Während den Gesprächen mit der Enkelin bearbeitet die Grossmutter die Fotos mit Kreide, Filzstift und Schere. Sie ist sich ihrer Vergesslichkeit bewusst und betrachtet sich selbst und ihr Handicap aus ironischer Distanz. Die selbst diagnostizierte Kopflosigkeit findet in den Fotografien ihre Entsprechung in Form von ausgeschnittenen oder überzeichneten Köpfen. Hintergründe werden ausgelöscht und einzelne Gedanken an entsprechender Stelle notiert. Immer wieder tauchen Pilze auf — sie wachsen dort, wo das Vergessen einsetzt oder, anders formuliert, dort wo das unterdrückte Bewusstsein, das eine kreative Tätigkeit bisher untersagte, vergessen wird. Die experimentellen Bilder, die sowohl auf emotionaler wie auch auf intellektueller Ebene berühren, konfrontieren uns mit unserer eigenen Fragilität und dieser gesellschaftlich gerne tabuisierten Krankheit.
Text von Sabine Schaschl

Gyr Gabriela G 2009 1
Gabriela Gyr, Lücken, 2009, Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2009

Gabriela Gyr (*1963 in Luzern, lebt in Luzern) schildert in Lücken den letzten Besuch bei ihrem Grossvater in Toronto. Das Video, das die Künstlerin als kleinen Essay bezeichnet, ist stark von den Charakterzügen eines Hörbuchs geprägt. Das einzige visuelle Motiv — die vom Wind bewegten Bäume — verändert sich lediglich durch den Wechsel des Tageslichtes. Die Reduktion des Visuellen verstärkt die Bedeutung des Akustischen. Die Stimme der Sprecherin lässt den Hörenden eintauchen in eine Szenerie, die von kleinen intimen Momenten zwischen Grossvater und Enkelin geprägt ist. Wir hören wie das Schälen der Tomaten zu einer beinahe meditativen Bewegung wird und wie der Grossvater Fragen über Fragen stellt, so als ob er keine Zeit mehr hätte. Mit dem am nächsten Tag erfolgte Gang in die Notfallklinik spitzt sich die Situation zu, deren Ausgang wir nicht erfahren. Wir bleiben mit den geschilderten Beobachtungen, unseren Vermutungen und den eigenen Stimmungsbildern ebenso zurück wie die Erzählerin selbst.
Text von Sabine Schaschl

Melli Ink G 2009 5
Melli Ink, Christopher, 2007, Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2009

Melli Ink (*1972 in Innsbruck, lebt in Zürich und Berlin) arbeitet seit einigen Jahren und in diversen Medien an einer zeitgemässen Interpretation der Vanitas-Thematik. Die Vergänglichkeit allen Irdischen war bis ins 18. Jahrhundert ein wichtiges Thema in der Kunst, das erst mit der Säkularisierung der Gesellschaft und mit der Zunahme von weltlichen Fragestellung aus den aktuellen Kunstdiskursen verschwand. Seit etwa 1760 wird die Überwindung der Vanitas ins Zentrum einer bürgerlichen Hochkultur gerückt, und ältere Vanitas Motive werden häufig einer geringer geschätzten Populärkultur zugerechnet. Melli Inks Zeichnungen, Installationen und Skulpturen spielen gekonnt mit dieser Frage des Verschwindens — und zwar im doppelten Wortsinn. Der Tod hat in der aufgeklärten Gesellschaft keinen Platz, er ist im Dieseits-Paradigma ein möglichst lange zu vermeidender ‹worst case›. Melli Inks Skulls, Herzen oder Skelette aus Glas sind fragilste Objekte von berauschender Schönheit, die in ihrer Zerbrechlichkeit zeigen, dass der Mensch das Leben letztlich doch nicht im Griff hat.
Text von Christoph Doswald

Jakob Bruno G 2009 1
Bruno Jakob, 7 Days of Death / at the Grave, 1989–94, Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2009

Der seit 1983 in New York lebende Schweizer Künstler Bruno Jakob (*1954 in Jegensdorf, lebt in New York) arbeitet seit geraumer Zeit an sogenannten Invisible Paintings, an unsichtbarer Malerei. Er malt mit Schneewasser oder er lässt seine Bilder von der Energie des Malgegenstandes aufladen. Dabei spielt neben dem medienreflexiven Aspekt der Verlust von Bildern, von Erinnerungen und von Geschichte eine tragende Rolle in seinem langfristig angelegten Projekt. Die im Kunsthaus Baselland gezeigte fünfteilige Werkgruppe heisst 7 Days of Death/At the Grave 1989-1994 und nimmt in dieser Untersuchung eine Sonderstellung ein. Ausgangspunkt für die in fünf unterschiedlichen Formaten und Techniken geschaffenen Werke ist ein einschneidender biografischer Moment im Leben des Künstlers — der Tod der eigenen Mutter. Jakob hat das Foto, die Papierarbeit und die drei Leinwände während seiner Totenwache angefertigt. Er hat versucht, die Energie im Bild einzufangen, die dem Körper seiner Mutter entweicht. Und er hat für sein quasi unsichtbares Portrait jenes Wasser benutzt, das für die Waschung des toten Körpers benutzt worden war.
Text von Christoph Doswald

Melzl Stephan G 2009 1
Stephan Melzl, Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2009

Der Maler Stephan Melzl (*1959 in Basel, lebt in Frankfurt) beschäftigt sich mit einer beunruhigenden Sicht auf die Welt. Seine Bilder sind bevölkert von Wesen, die auf den ersten Blick zwar in jungen Körpern daherkommen, bei genauerem Hinsehen jedoch schon das Wissen um Alter und Vergänglichkeit mit sich herumschleppen. Buben, die rauchen und über die Himmelfahrt sinnieren; junge Mädchen, die das Röcklein lüpfen und ihre unbefleckte Scham zeigen — und doch schon graue Haare haben. «Ihr intimer, mystischer Ton verunsichert», hält die Kuratorin Dorothea Strauss fest. «In den Arbeiten von Stephan Melzl zeigt sich exemplarisch die Macht des Bildes, rationales Denken zu transzendieren. Für die Darstellung innerer Zustände und Phantasien konstruiert er gegenständliche Welten von eigentümlicher Melancholie und zugleich humorvoller Komik... Sie erzählen von einem fragmentierten, einem ambivalenten Zustand einer Bewältigung der äusseren und inneren Wirklichkeit.»
Text von Christoph Doswald

Mosley Ryan G 2009 1
Ryan Mosley, Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2009

Der Maler Ryan Mosley (*1980 in Chesterfield, lebt in London) arbeitet an einer Neu-Formulierung des Personenbildes, die auch schon als ‹hyperfigurativer Psycho-Kubismus› bezeichnet wurde (Richard Dyer, Artreview). Seine an Jugendstil-Ornamentik erinnernde Peinture operiert noch mit diversen weiteren kunsthistorischen Versatzstücken — u.a. steht er in der Tradition eines barocken Vanitas-Gedankens, der sich im regelmässig wiederkehrenden Gebrauch von Totenköpfen aller Couleur manifestiert. Vergleichbar mit Archimboldos hybriden Konstruktionen, die sich aus einer Vielzahl unterschiedlichster Wesen und Objekte generieren, sind auch Ryan Mosleys Figuren von vieldeutiger Herkunft — multiple Persönlichkeiten, denen allen der kulturelle wie der physische Alterungsprozess ins Antlitz geschrieben steht.
Text von Christoph Doswald

Müllenbach Thomas G 2009 1
Thomas Müllenbach, Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2009

Der Maler und Zeichner Thomas Müllenbach (*1949 in Koblenz/DE, lebt in Zürich) beschäftigt sich in seinen auf kleinformatigen Fotos basierenden Bildwelten mit unserem Alltag. Dabei geht es ihm nicht primär um die Wiedergabe von Erlebnissen oder Anekdoten, sondern um die Metaphorik von Strukturen und Mechanismen, in die sich unser Leben einschreibt, ohne wirklich Teil davon zu werden. Vor allem Müllenbachs grossformatige Graphitzeichnungen, die der Künstler am Atelierboden herstellt, fokussieren auf Raumsituationen, die uns bekannt vorkommen, aber trotzdem fremd bleiben: Flugzeugcockpits, Operationssäle, Hochsicherheitslabore, Solarreaktoren, Positronenemissionstomographen, Atommüllanlagen. Nur manchmal wird es profaner; dann zeichnet Müllenbach auch schon mal eine Küche. In der Regel interessiert sich der Künstler jedoch für den Sonderfall. Und darauf basiert auch seine Serie über Räume im Altersheim, die er für die Ausstellung im Kunsthaus Baselland gezeichnet hat. Sie zeigen Zimmer, die sich in «sehr trivialen, banalen Grossbauten befinden» (Müllenbach) und verweisen damit auf die noch immer dominierende Tristesse des Altwerdens.
Text von Christoph Doswald

Pretzer Paul G 2009 2
Paul Pretzer, Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2009

Paul Pretzers (*1981 Paide/Estland, lebt in Dresden) seit 2005 entstehendes malerisches Oeuvre ist von einer Schar merkwürdiger Fabelwesen bevölkert. Oft halb Mensch, halb Tier, halb Ausserirdische formulieren seine Figuren eine Vielzahl allegorischer Verweise, operieren in der Grauzone der Gattungen; sie changieren zwischen imaginierten Andersen-Märchenfiguren, den Walt-Disney-Protagonisten und jenen zeichenhaften Gestalten, welche die Zeichnungen des Bild-Satirikers F. K. Wächter prägen. Der Erinnerungseffekt ist gewollt: «Ich versuche, eine Realitätsebene zu schaffen, die dem Betrachter bekannt vorkommt», sagte Pretzer 2004. Pretzer berichtet mit symbolhafter Aufladung und mit scheinbar naivem Künstlerblick von den Abgründen, Verstümmelungen und Verschüttungen jeder Existenz. Seine Werke sind meist kleinformatig, die Narration scheint in sich geschlossen. Und doch entsteht im Überblick ein verästeltes Universum, dessen Hintergründigkeit sich als Sittengemälde unserer postindustriellen Gesellschaft lesen lässt, als moralinfreier Bericht eines Zustandes. Kein Blut, keine Spuren. Am Anfang war es nur ein Jucken ist ein Bild betitelt, das zwei ältere Männer zeigt, ungläubig auf ein amputierte Bein weisend.
Text von Christoph Doswald

Rudelius Julika G 2009 1
Julika Rudelius, Forever, 2008, Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2009

Für ihre Videoinstallation Forever hat Julika Rudelius (*1968 in Köln, lebt in New York) fünf ältere Frauen ‹gecastet›, die durch eine bestimmte Schönheit auffallen — eine Schönheit, die von einem elitären Lebensstil und der damit zusammenhängenden Möglichkeiten des sich Verschönern und Verjüngen geprägt ist. Alle fünf werden vor Swimmingpools in den amerikanischen Hamptons, dem Sommerrückzugsort der Reichen südlich von New York, interviewt. Die Fragen der Künstlerin hören wir nicht, jedoch die einerseits stereotypen, andererseits jedoch auch sehr persönlichen Antworten der einzelnen Frauen in Bezug auf Schönheit und Glücklich-Sein. Rudelius zeigt die aufgenommenen Monologe auf zwei Projektionsflächen. Die Untertitel des Gesprochenen laufen auf beiden Bildflächen, wobei eine davon manchmal ohne Bilder bleibt und ein andermal schon die nächste Frau eingeblendet wird. Wir erleben einen dysfunktionalen Dialog, der das Gesprochene in seiner Allgemeinheit unterstreicht. «Actually it is all about being happy» oder «inner beauty reflects on the outside» hören und lesen wir und fühlen uns an Phrasen der Lebenshilfe oder Filmsoaps erinnert. Bei längerem Betrachten jedoch kommen die Intimität der einzelnen Frauen und ihre Verwundbarkeit stärker zum Vorschein — v.a. in den Momenten, wo sie mit Selbstauslöser Polaroidfotos von sich machen. Wir sehen nicht die Fotos, aber das Posieren. In Forever sind wir mit drei verschiedenen Arten des Betrachten konfrontiert: Das Betrachten mit der Videokamera, das Betrachten als Rezipient und das Selbstbetrachten mit der Polaroidkamera. Wir sind konfrontiert mit der Vergänglichkeit des ‹Bildes› der Frau, das als komplexes gesellschaftliches Konstrukt immer wieder neuen Definitionen unterliegt.
Text von Sabine Schaschl

Schmid Max Phillipp G 2009 1
Max Philipp Schmid, Der freie Fall, 2005, Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2009

Auf fünf am Boden liegenden, nach oben gerichteten Bildschirmen präsentiert Max Philipp Schmid (*1962 in Basel, lebt in Basel) die Installation Der freie Fall. Der dramaturgische Auftakt der filmischen Inszenierung beginnt mit dem stehenden Betrachter der von oben die ihm zu Füssen liegenden Bildsequenzen verfolgt. Den Bildern von zerknüllten, einen Körper verhüllenden Leintüchern, folgen Detailaufnahmen eines nackten, liegenden alten Mannes, dessen Kopf, Arme und Beine, später auch Hals und Mund im Fokus stehen. Schnitttechnische Manipulationen bringen das Bild des gewohnt integeren Körpers von Anfang an ins Wanken; der Körper ruckelt, zuckt, vibriert und scheint seine Kontrolle verloren zu haben. Aufnahmen von Neonlichtreihen, die spotartig auftauchen und wieder verschwinden und ebenso ruckeln und zucken wir vorher die Bilder des Körpers, lassen schnell an Krankenhäuser denken; der zwischendurch gezeigte offene Mund des Mannes sogar an Situationen in Leichenschauhäusern. Plötzlich taucht der Mann wieder auf; diesmal im Anzug, umgeben von Bildern von Sitzungsräumen und typischen Büroeinrichtungen. Seine Gesten sprechen von Macht und Einfluss, doch wieder zerrütten die anhaltenden Bildstörungen jene scheinbaren Erinnerungsmomente, bis sie zur Gänze verschwinden. Die Bilder kehren zurück zum Ausgangspunkt, zum in Leintüchern gehüllten liegenden, alten Mann. Der Künstler nützt die Methode der audiovisuellen technischen Manipulationen bzw. den Einsatz der bewussten Störungen zur Verstärkung der Bilder und ihrer Wahrnehmung. Der freie Fall thematisiert ein gesellschaftliches ‹Fallen›, das allmähliche Schwinden von (Macht-)Positionen und die Erfahrung von generellem Kontrollverlust — Erfahrungen, die v.a. im Alter besonders eindrücklich sind.
Text von Sabine Schaschl

Villesen Gitte G 2009 1
Gitte Villesen, Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2009

Die Künstlerin Gitte Villesen (1965 in Ansager/DK, lebt in Kopenhagen und Berlin) arbeitet meist mit Video und verfolgt darin eine dokumentarische Haltung. Sie zeigt uns in den kaum bearbeiteten Szenen eine Reihe von Menschen, die zwar keine Stars sind, sich aber trotzdem einer relativ exzentrischen Lebenshaltung verschrieben haben: Transvestiten, Diskjockeys, Strassenmusikanten, kurz, Menschen, die sich bewusst dem normierten Alltag entziehen. Willy Bøtker, mit dem Villesen 1994 eine Reihe von Videos drehte, scheint auf den ersten Blick diesem Thema nicht zu entsprechen. Er gleicht vielmehr dem netten Mann von nebenan. Villesen hat den Pensionär, der in Billund lebt, mehrfach besucht, interviewt und diese Gespräche dokumentiert. Sie zeigen Willy als obsessiven Autonarren, der, nach eigenen Angaben, in seinem Leben rund 600 Autos besessen hat. Sie zeigen ihn aber auch als begnadeten Sänger und Erzähler, der die Betrachter anhand seiner umfangreichen Plattensammlung auf eine ‹sentimental journey› mitnimmt, auf eine anrührende autobiografische Reise durch die Musikgeschichte der 1950er- bis 1970er-Jahre. Willys Motto: «Wenn es etwas gibt, worüber ich gerne spreche dann sind das Autos, Motorräder, Flugzeuge...und Frauen und Musik sind auch ganz nett».
Text von Christoph Doswald

Weber Herbert G 2009 1
Herbert Weber, Ambivalenz des Willens, 2009, Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2009

Den aus dem Toggenburg stammenden Fotokünstler Herbert Weber (1975 in Frauenfeld, lebt in Ebnat-Kappel) bewegen grundsätzliche Fragen zum Medium mit dem er arbeitet. Weber kultiviert dafür mit seinen meist kleinformatigen Schwarzweiss-Fotos ein Rollenspiel im Dienste der pseudo-wissenschaftlichen Recherche. Sein Körper dient ihm als Instrument, die Fotografie ist ihm Gegenstand und Recherche-Zweck zugleich. Er besteigt Bäume, wandert über Bergrücken, erforscht das Terrain einer stillgelegten Fabrik, oder lichtet Wolkenbewegungen in einer mondlosen Nacht ab. Dabei erstellt er mit seinem fotografierenden und fotografierten Körper eine Topografie der eigenen Erkundungsreisen. Es ist dies eine Tätigkeit, die in ihrem entschleunigten, bedächtigen Habitus an Forschungsexpeditionen des frühen 19. Jahrhunderts erinnert. Und doch ist Herbert Weber ein Jetztzeit-Künstler, der mit seinem Perspektivwechsel die Frage nach der Subjektkonstruktion und nach dem Verhältnis des Ichs zur eigenen Geschichte neu stellt. Wenn er in der Ausstellung einen ersten Blick auf die ‹Ewigen Jagdgründe› wirft, geschieht das nicht ohne Hintersinn, vor allem aber auch im Bewusstsein, dass der Zyklus der Natur die grossen Fragen von selbst klärt.
Text von Christoph Doswald

White Charlie G 2009 1
Charlie White, Teen Idols, 2008, Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2009

Charlie White (*1972 in Philadelphia, lebt in Los Angeles) beschäftigt sich in seinen Filmen, Fotografien und Animationsvideos mit der Frage nach den massenmedialen Einflüssen auf die Subjektkonstruktion. Das ist vor dem Hintergrund der gesellschaftlich-leitmotivischen Hollywood-Filmindustrie vor seiner eigenen Haustüre besonders dringlich. Teen Idols (2008) ist eine fünfteilige Serie von weiblichen Vorbildern, die White aus Hochglanz-Zeitschriften herausgelöst, erst zerknüllt und dann wieder einigermassen geglättet hat. Sie zeigen die von Teenagern verehrten Beauty-Queens mit faltigem Antlitz, Spitting Images in Reinkultur. Trotz dieser simplen Manipulation wird bei diesen fotografischen Darstellungen weiterhin die Wahrheits- bzw. die Authentizitätsfrage gestellt. Das ist dem Medium eingeschrieben. Mit dieser permanenten Verunsicherung der Rezeption operieren Charlie Whites Bildwelten. Es handelt sich bei seinen Werken — so auch bei Homo habilis (2006) — immer um konstruierte Bilder mit hohem Realitätsgehalt. Und zwar nicht wegen ihrer Echtheit, sondern darum, weil sie das phantasmagorische Potenzial des Wirklichen in sich tragen, diese Sehnsucht nach Schönheit, Glück und Selbstverwirklichung, die letztlich auch unser Leben bestimmt.
Text von Christoph Doswald

Winteler Anna G 2009 1
Anna Winteler, Geriatrie 1A — Das Hohelied, 1991

Im Rahmen der Ausstellung zeigt das Kunsthaus Baselland auch die letzte Videoarbeit von Anna Winteler (*1954 in Lausanne, lebt in Basel), bevor sie sich entschloss, ihre Tätigkeit als Künstlerin zu beenden. Geriatrie 1A — das Hohelied aus dem Jahre 1991 zeigt die Fahrt einer Kamera auf einem Rollstuhl durch die Gänge der geriatrischen Abteilung des Kantonsspitals Basel über einen Zeitraum von 24 Stunden. Wie ein Metronom gibt das Geräusch der Absätze der Person, welche den Rollstuhl schiebt, einen das Video begleitenden Takt vor. Die Kamera bewegt sich zu jeder Stunde gelblich wirkenden Dielen und Räumen entlang und steuert wiederholt auf die Lifttüre zu. Das Mobiliar, die Ausstattung und die Raumgestaltung im Video bezeugen mittlerweile eine vergangene Zeit. Anna Winteler hält mit ihrem Video das An- und wieder Abschwellen des Krankenhausbetriebs fest: die nächtliche Ruhe wechselt ab mit der grossen Betriebsamkeit in den Morgenstunden, den lautstarken Reparaturarbeiten am Nachmittag und der Rückkehr zu einem gelasseneren Treiben in den Abendstunden. Die wiederkehrenden Fahrten sind nebst dem Geräusch der Schuhabsätze von einer männlichen und einer weiblichen Stimme begleitet, welche das Hohelied Salomons vortragen — jenes Gedicht im Alten Testament, das die Annäherung der zwei Liebenden (Salomon und Sulamith) schildert. Wintelers Video ähnelt einem gleichzeitigen Rück- und Ausblick auf menschliche Lebensphasen, wobei sich durch die gegenseitige Überlagerung des Bild- und Tonmaterials keine zeitliche Zuordnung für das Lieben und Altern herausschält — und gehen leben, lieben und altern nicht sowieso miteinander einher?
Text von Sabine Schaschl

Yanagi Miwa G 2009 1
Miwa Yanagi, Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2009

Die Konzeptkünstlerin Miwa Yanagi (*1967 in Kobe, lebt in Kyoto), die ihr Land momentan auf der Biennale Venedig vertritt, beschäftigt sich seit längerem mit dem Bild und der Rolle der Frau in der Gesellschaft. Vor dem Hintergrund der stark normierten japanischen Lebensformen befragt sie das weibliche japanische Selbstverständnis mittels ihren langfristig angelegten fotografischen Studien. Aufnahmen realer Personen, die in verfremdete und synthetisch hergestellte, digital bearbeitete, teilweise fantastische Landschaften und Innenräume gefügt sind, werden zu Fotoserien oder manchmal auch monumentalen Bildkompositionen verarbeitet. Für den in der Ausstellung gezeigten fünfteiligen Ausschnitt aus der Werkserie My Grandmothers befragte die Künstlerin junge Japanerinnen nach ihrer Vorstellung vom Altwerden. Die protokollierten Zukunftsprognosen übersetzte Yanagi in Foto-Inszenierungen, die sie zusammen mit den Urheberinnen dieser Fantasien, also mit den jungen Frauen, realisierte. Aus diesem Zusammenspiel von Text- und Bild-Zukunft entstand eine eindringliche Folge von Vorstellungen des Altwerdens, deren visuelle Ambiguität die Berührungsängste im Umgang mit der Thematik schildern.
Text von Christoph Doswald