El Gran Grito

«Next Generation»

Diplomausstellung Bachelor und Master Institut Kunst Gender Natur HGK Basel FHNW

26.8. —
10.9.2023

El Gran Grito Bonzon IAGN 3428
Florent Bonzon, The apparition; The ambivalence of λογος, both 2023
El Gran Grito Lambelet Wehrli IAGN 3352
Camille Lambelet, New arrivals, 2023; Jodok Wehrli, sitting, scheming, watching, dreaming (of how it would feel to be coherent), 2023
El Gran Grito Ostrowsky Kim IAGN 3356
Patrick Gerhard Ostrowsky, Structures of Existence (watching the circles under my eyes grow darker), 2023; La-Im Kim, 나무야 미안해 – Sorry, Tree, 2023
El Gran Grito Homse IAGN 3395
Pat Homse, No one ever forgets, 2023
El Gran Grito Jacot Bosque IAGN 3432
Gilles Jacot, Staggered (part II), 2023; Paloma Bosquê, Three Suns, 2023

Und Kristian Suvatne Augland, Léon Bloch, Amélie Bodenmann, Peter Kradolfer, Camille Lambelet, Ramiro Oller, Virginie Sistek, Oleksandra Ulianchyk.

Rund 50 Graduierte zeigen für diese Ausstellung ihre Abschlussarbeiten im Kunsthaus Baselland. Die Ausstellung ist eine übergreifende Partnerschaft zwischen dem Institut Kunst Gender Natur (Chus Martínez) und dem Kunsthaus Baselland (Ines Goldbach), die nunmehr zum achten Mal stattfindet und die langjährige wichtige Zusammenarbeit der beiden Institutionen und ihren Leiterinnen widerspiegelt.

Mit EL GRAN GRITO (der grosse Schrei) ist das Institut Kunst Gender Natur, Hochschule für Gestaltung und Kunst Basel FHNW bereits zum achten Mal im Kunsthaus Baselland zu Gast. Über die Präsentation von neuen Arbeiten von knapp 50 aufstrebenden Künstler:innen in einer bedeutenden Kunstinstitution hinaus, spiegelt sich die Besonderheit der Diplomausstellung in der Ausbildung von Künstler:innen – der Übergang vom betreuten Umfeld der Kunsthochschule zu den Herausforderungen als professionelle Kunstschaffende – in der Einladung von jährlich wechselnden renommierten Gastkurator:innen wider, welche die Ausstellung gemeinsam mit Chus Martínez, Leiterin Institut Kunst Gender Natur, kuratieren. In diesem Jahr ist dies das Kollektiv El Palomar, das 2013 in Barcelona gegründet wurde und auf die Erforschung, Wiederherstellung und Produktion von queerer Kunst und Erinnerungen fokussiert.

Part 1: Kontext

Der Titel unserer diesjährigen Diplomausstellung lautet EL GRAN GRITO – der grosse Schrei. Damit ist kein Schmerzensschrei gemeint, sondern ein kollektiver Schrei der Befreiung. Wir fühlen uns endlich von den Bedingungen befreit, welche die Pandemie unserem Leben auferlegt hat. Es ist ein grossartiges Gefühl, sich ohne Masken treffen und unterhalten zu können, sich wieder bewegen zu können und ohne die vielen Einschränkungen, die wir erlebt haben, zusammen zu sein. Und doch ist es ebenso wahr, dass weder die Pandemie noch wir, die Bewohner:innen unseres Planeten, dazu beigetragen haben, die Welt zum Besseren zu verändern. Die Pandemie hat die soziale Spaltung beschleunigt, welche bereits latent vorhanden war, sich nun aber offensichtlich und auf die schlimmste Art und Weise manifestiert. Die wirtschaftlichen Bedingungen haben sich verändert und haben sicherlich einen schlechten Einfluss auf unsere Entscheidungsfindung, aber nicht nur. Auch unsere kulturellen Bedingungen haben sich verändert, und wir leben in Uneinigkeit über unsere zukünftigen Wege, was zweifellos schwerwiegende Folgen für uns alle haben wird.

In dieser Hinsicht ist es nützlich, eine Gedächtnisübung durchzuführen und zu versuchen, sich zu erinnern, wann die Probleme begonnen haben. Es gibt jedoch nicht einen einzigen Ausgangspunkt und sicherlich hängt alles von der Sichtweise der Gemeinschaft ab, die in die Vergangenheit blickt. Dennoch lohnt es sich, die Geschichte dessen zu rekonstruieren, was wir in unserer Kultur für wichtig halten, um zu verstehen, warum wir uns von bestimmten Werten entfernt haben. Ein interessanter Moment war die Verunsicherung, die durch eine neue Form von supranationaler Organisation – der Europäischen Union – hervorgerufen wurde. Sicher, die Schweiz war nie Teil davon, und doch nimmt sie sozusagen osmotisch an ihren Prozessen teil.

Um die Zeit der Entstehung der EU war die Gefahr einer zunehmenden Unverbundenheit der Bürger:innen mit Europa das Hauptanliegen bestimmter kulturpolitischer Kreise. Aus diesem Grund spielten –
vielleicht fast unbewusst – die Städte und ihre Bürgermeister:innen im ersten Jahrzehnt der EU eine wichtige Rolle. Städte wie Barcelona, Paris und Kopenhagen präsentierten sich als Kunst- und Kulturstädte, und viele Veranstaltungen, Festivals, Ausstellungen und Initiativen aller Art wurden ausserhalb der bestehenden Institutionen organisiert. Die skandinavischen Städte waren bekannt für ihre Performancefestivals während den langen Sommernächten; Barcelona für sein grossartiges Branding und seine Unterstützung von elektronischem Sound und Kunst... Auch die Manifesta, die nomadische Biennale, entstand in diesem Kontext. Europäische Städte spielten damals die Rolle von Gemeinschaften, die an Ort und Stelle zu blieben, die miteinander verbunden und in der Lage waren, verschiedene Identitäten anzusprechen, ohne das Risiko eines biederen Nationalismus. Die Städte waren ein wenig wie römische Republiken innerhalb der EU.

Dies waren auch die goldenen Jahre des unabhängigen Kuratierens, des ständigen und intensiven öffentlichen Austauschs zwischen Kulturakteur:innen. Doch die Jahre vergingen, und es war klar, dass die Mehrheit der europäischen Bürger:innen die EU nicht ablehnen würde. Die Budgets wurden gekürzt und die Programme wurden direkt von Brüssel aus initiiert und definiert. Die Finanzierung unabhängiger Initiativen nahm ab und die Bedeutung der alten und grossen patrimonialen Projekte nahm wieder zu. Die grossen Museen in ihren neuen Gebäuden stellten die Fähigkeit der Länder auf die Probe, nicht nur Kulturschaffende, Künstler:innen, Kurator:innen und Musiker:innen anzuziehen, sondern auch den Massentourismus. Eine andere Art von Energie wurde freigesetzt und zeitgenössische Alltagspraktiken wurden – wieder einmal – in den Untergrund, in die Nischen und Eliten verbannt.

In der Zwischenzeit wuchs die Ungleichheit und mit ihr die Eliten, die in den Medien, in der US-Präsident-schaft, in den Emiraten und in vielen Ländern, die sich an ein hohes Mass an Toleranz und Sichtbarkeit von Ungleichheit gewöhnt hatten, ein starkes Comeback feierten. Diese Welle von ermächtigendem und ermutigendem Wohlstand schuf nun Allianzen, nutzte die Sprache von Kunst und Kultur und definierte Institutionen und Initiativen mit den Sprachen, die wir für öffentliche Belange und demokratische Räume verwenden. Tatsächlich, der öffentliche Raum ist arm und einige private Sektoren – etwa Luxusgüter und Technologie – sind es nicht. Es ist nicht schwer, einige Konsequenzen daraus zu beschreiben – und wir überlassen es euch zu glauben oder nicht, dass öffentliche Werte wie Demokratie, echte Integration und Freiheit auch von Unternehmen verteidigt werden können.

Aber ja, wir möchten die Gelegenheit nutzen, um zu Gesprächsrunden aufzurufen, zum sorgfältigen Entwerfen und Beobachten möglicher Szenarien und Aktionen, um Kunst und Kultur in die Lage zu versetzen, soziale und kollektive Erfahrungen zu moderieren. Denn, wer sind wir, um das zu tun? Nur eine Kunsthochschule in der Schweiz. In unserer Kühnheit glauben wir in der Tat an unsere Gemeinschaft und an den immensen Wert von Bildung. Im Gegensatz zu anderen denken wir nicht, dass wir mit sozialen Protesten oder Umwälzungen konfrontiert werden, um ein Gegengewicht zu den zahlreichen Prozessen der öffentlichen Verarmung zu schaffen, denen wir ständig ausgesetzt sind. Wir glauben, dass wir eher in Armut und Traurigkeit implodieren werden, aufgrund eines Gefühls des Verlustes und der wachsenden Angst, die durch den Mangel an Perspektiven entstehen.

In diesem Sinne ist Kunstausbildung nicht eine Frage von Fertigkeiten und der Produktion von Werken – jedenfalls nicht, wie wir sie am Institut Kunst Gender Natur HGK Basel FHNW verstehen und lehren – und auch nicht eine Gegebenheit, die durch das Praktizieren und eine gewisse Anzahl Arbeitsstunden erworben wird. Kunstausbildung umfasst eine tiefgreifende Erforschung der Bindungen, die durch Erfahrungen im sozialen Raum entstehen, um einen Sinn für das Selbst zu entwickeln, der sich auf das Kollektiv erstreckt. Kunstausbildung ist der Name für die Entwicklung von Sprachen, Methoden, Praktiken, Situationen und auch Kunstwerken, die darauf abzielen, Erfahrung als treibende Kraft in Richtung Freiheit, Empathie, Liebe, Gesundheit, Relevanz, Freundschaft... zu aktivieren. Wenn dies so ist, und es ist so, wie können wir uns dann auf die bevorstehenden Transformationen vorbereiten, wenn wir uns nicht relevant und verbunden fühlen, wenn wir kein Gefühl dafür haben, das Leben zu spüren und von anderen als sinnvoll erachtet zu werden? In der Kunstausbildung geht es darum, diese Erfahrung von Anteilnahme und Verbundenheit als Kern des Sozialen
immer wieder neu zu erzeugen.

Part 2: Die Diplomausstellung

Auch in diesem Jahr wird die Diplomausstellung des Institut Kunst Gender Natur HGK Basel FHNW gemeinsam mit Gäst:innen kuratiert. El Palomar, die diesjährigen Co-Kurator:innen, sind ein aus Spanien stammendes Kunstkollektiv, das sich in seiner Arbeit intensiv mit Gleichheit, Vielfalt und Gender auseinandersetzt. Ihre Praxis dreht sich um das bewegte Bild, das Kuratieren, Medieninstallationen, Performance und Musik, während sich ihre Produktionen auf Trans-Diskurse und Empowerment sowie die Möglichkeit einer Welt voller Akzeptanz von selbstbestimmter Identität konzentrieren. Die Diplomausstellung umfasst Werke von Kunstschaffenden, die ihr Bachelor- und Masterstudium am Institut Kunst Gender Natur HGK Basel FHNW abschliessen.

Die Produktion einer solchen Ausstellung ist komplexer als gemeinhin angenommen. Sie erfordert ein Verständnis für den Ort, an dem wir uns befinden, für den physischen Raum, aber auch für die physischen Umstände, den Raum mit so vielen anderen Künstler:innen zu teilen. Dieses Wissen bestimmt natürlich die Entscheidungsprozesse für die Werke, denn wir wissen, dass die Ausstellung gemeinsam konzipiert wird und die Präsenz jedes Werks von der Erfahrung der benachbarten Werke genährt werden muss. Die Gespräche über die Ideen und Vorschläge nehmen ihren Anfang mit dem Beginn des akademischen Jahres und es finden mindestens drei Runden mit den Kurator:innen, der Assistenzkuratorin – Tabea Rothfuchs – und dem technischen Team statt. Konzeptionelle Überlegungen gehen Hand in Hand mit den Ausstellungsmöglichkeiten. Die Künstler:innen sind sich nicht nur der Materialien und Sprachen bewusst – Performance, Malerei, digitale Animation, Skulptur,
Poesie, Zeichnung –, sondern auch der Mittel und Techniken, welche die Präsentation ihrer Arbeit mitbestimmen. Das Gespräch über das «wie» – die Art des Klangs, der Platzierung, der Dauer – ist ein entscheidender Weg, um den Künstler:innen zu helfen, eine Vorstellung von dem schlussendlichen Werk zu entwickeln. Parallel zu diesen Gesprächen findet der lange und harte Prozess der
Produktion statt.

Es handelt sich hierbei nicht um eine thematische Ausstellung. Es handelt sich um eine fortlaufende Ausstellung, die einen Fluss des gemeinsamen Betrachtens von Werken schafft, indem sie Handlungsweisen und Formen des Umgangs mit Anliegen verbindet, die es zu entdecken gilt. Bei allen Werken ist die Anwesenheit des Publikums mitgedacht. Die Erfahrung mit den Werken – und das ist etwas anderes, als wenn ein Kunstwerk gemocht oder nicht gemocht wird – ist von grundlegender Bedeutung für den Erhalt einer kollektiven Erfahrung von kulturellem Raum, den wir schaffen und auf dem wir bestehen. Die einfache und grundlegende Tatsache des Zusammenlebens schafft Bedingungen für kollektive Erfahrungen von Schmerz und Freude, die es uns ermöglichen, besser zu verstehen, wer wir im Verhältnis zu anderen sind. Diese umfassende Kraft schafft hoffentlich Gespräche und Ideen, die uns zwingen, einander näher zu kommen. Diese Nähe im öffentlichen Raum einer Kunstausstellung ist von grundlegender Bedeutung, um eine Polarisierung und das Risiko von totalitären Fantasien und Ansätzen zu vermeiden.

Wir danken dem Kunsthaus Baselland, seiner Direktorin Ines Goldbach und ihrem Team für die bereits achte Zusammenarbeit im Rahmen der Diplomausstellung und für die erneute Gastfreundschaft. 2023 ist zudem ein wichtiges Jahr für das Kunsthaus Baselland und auch für uns, denn beim nächsten Mal wird unsere Diplomausstellung im neuen Gebäude des Kunsthaus Baselland auf dem Dreispitz stattfinden, in unmittelbarer Nähe zum Campus der HGK Basel FHNW. Dies ist folglich unser Abschied von dem Ort, der uns acht wunderbare Jahre lang willkommen hiess. Wir danken zudem dem gesamten Team des Institut Kunst Gender Natur HGK Basel FHNW für die tatkräftige Unterstützung, und nicht zuletzt danken wir den teilnehmenden Künstler:innen für ihre grossartigen Arbeiten, ihr Vertrauen in uns und in sich selbst sowie für den kontinuierlichen Austausch.

Chus Martínez und El Palomar

El Palomar ist ein Kunstprojekt, das auf die Erforschung und Produktion von queerer Kunst und Erinnerungen fokussiert, um die verborgene Geschichte im Zusammenhang mit Genderpolitik aufzuarbeiten. Es wurde 2013 von den Künstler:innen Mariokissme und R. Marcos Mota gegründet und hat sich zu einem wegweisenden Projekt entwickelt, das ein Umdenken in der zeitgenössischen Kunst, in Institutionen und der künstlerische Forschung anregt. Sie sind bestrebt, queere Politik in den kulturellen Bereich einzubringen. El Palomar haben unter anderem zahlreiche Ausstellungen, Workshops, Demonstrationen, Musikvideos, Archive, Performances und Reenactments realisiert.

Kurator*in: El Palomar und Chus Martínez. Kuratorische Assistenz Tabea Rothfuchs