Regionale 21

28.11.2020  —
4.1.2021


Mitchell Anderson, Philipp Hänger, Eric Hattan, Matthias Liechti, Raphael Loosli & Arnaud Wohlhauser, Céline Manz, Anina Müller, Alexandra Navratil, Jacob Ott, Nina Rieben, Anna Schwehr, Flurina Sokoll, Romain Tièche, Jan van Oordt, Johannes Willi, Olga Zimmelova


Asche
Candle for the no
Clouds
Coffee & Milk
Dominant Dreams
Erde an Kosmos
fold; Simulationisms
Gratis basket piece
Handlauf
Hilanderas (James S. Brady Briefing Room, White House, USA February 25, 2020)
Holes, Blanks, Ways Out
I used to like people, now I only like seagulls
in cuore sento il pazzo volo di un’ape regina
Indolore, Endolori
Im Grenzgebiet zwischen Luft und Speise Röhre
Love to love you baby
Sentimental Title, loading
Shhh
So eine Umordnung
Tête à tête
The magic is still there but the sex is terrible
The Racing Agency
Under Saturn (Act 3)
Verbeugen üben
Verlauf I
Weltenraum

Eine Abfolge von Werktiteln. An ein Gedicht erinnernd vereinen diese Zeilen die einzelnen Arbeiten der Künstler*Innen, abseits der Setzungen in der Ausstellung. Sie ermöglichen unbekannte Anknüpfungspunkte. Eine Poesie im Raum, die Freiraum zum Denken gibt: unterschiedliche Sprachen, Stile und Sujets laden dazu ein, Vorgegebenes und Bekanntes zu überdenken und Getrenntes zu verbinden.

Die eingeladenen Künstlerinnen und Künstler nutzen bestehende Ressourcen und Strukturen. Bewusst lösen sie einzelne Elemente heraus, um mittels ihrer jeweils eigenen künstlerischen Strategie neue Zusammenhänge zu erzeugen. Die Ausstellung im Kunsthaus Baselland stellt siebzehn Kunstschaffende vor, die in einer präzisen Blickführung auf die unmittelbare Umgebung dringliche Fragen an die aktuellen Gewohnheiten und Zustände stellen.

Die dabei entstandenen gedanklichen Zwischenräume werden wöchentlich durch externe Gäste bespielt und zugleich durch ihre eigene Perspektive erweitert. Eine Art Souvenir aus Texten ermöglicht, sich an Gesehenes zu erinnern und selbst den ein oder anderen aufgegriffenen Gedanken weiterzuführen.

KuratorIn: Géraldine Honauer, freischaffende Künstlerin, Ines Tondar und Ines Goldbach (Assistenzkuratorin)

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Foto: Gina Folly

Alle Künstler*innentexte sind als kostenlose Postkarten im Kunsthaus Baselland erhältlich.

Mitchell Anderson G 2020
Mitchell Anderson, fly-tip situations, 2018-2020 / Las Hilanderas (James S. Brady Briefing Room, White House, USA February 25, 2020), 2020. Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2020. Foto: Gina Folly

„Gratis“ oder „Zu verschenken“ sind als vermeintlich auffordernde Botschaften auf den fly-tip situations von Mitchell Anderson (*1985) zu lesen. Der Künstler findet die Objekte in seiner unmittelbaren Umgebung und verweist durch die lineare Anordnung im Kunsthaus Baselland auf ähnliche Strassensituationen, an denen Besucher*innen mit gesenktem Blick entlanggehen. Das teils rechtswidrige Weggeben von Gegenständen unterstreicht hier Schritt für Schritt die Diskrepanz zwischen Eigennutz und Grosszügigkeit und legt zugleich gesellschaftliche, hierarchische Prinzipien offen. Die Videoarbeit Las Hilanderas (James S. Brady Briefing Room, White House, USA February 25, 2020) im Nebenraum zeigt die Minuten vor einer Pressekonferenz im Weissen Haus. An der Schnittstelle zwischen Politik und Öffentlichkeit bereiten sich Journalist*innen auf ihre Berichterstattungen vor und halten somit Betrachter*innen in einer anhaltenden Warteschleife. Die Auflösung jedoch bleibt aus und die Machtposition eine scheinbar unbesetzte Leerstelle. In den Fokus rücken die Berichterstattenden, in der Hoffnung der Rezipient*innen, dass sie Unabhängigkeit und Objektivität bewahren. Der Titel, in Anlehnung an das grossformatige Gemälde Las Hilanderas (Die Spinnerinnen) von Diego Velázquez (1599–1660) gewählt, lässt mitunter aufgrund der bildlich dargestellten mythologischen Erzählung von Aracne vermuten, dass sich vielmehr Zensur und Befangenheit gegenwärtiger Regierungen abzeichnen. Ein Interesse im Dekontextualisieren von bestehendem Material sowie die Aufmerksamkeit für das Unspektakuläre verbindet die beiden Positionen, während sie mit Nachdruck auf die weitreichende Bedeutung und Tiefgründigkeit dieser gewöhnlichen Momente hinweisen.

Philipp Hänger G 2020
Philipp Hänger, Director’s Cut, 2020. Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2020. Foto: Gina Folly

Gezwungen, stets den gleichen Weg zurückzulegen, befreit Philipp Hänger (*1982) die beiden Handläufe einer Rolltreppe und legt sie über architektonische Elemente der Ausstellungshalle. Mit räumlichem Bezug auf das bestehende Sheddach wiederholen die Handläufe das Auf und Ab, setzen jedoch zugleich ihren Verlauf den kantigen «Zähnen» des Daches gegenüber. Bedingt von der Schwere des gummiartigen Materials suchen die Bahnen die Nähe des Bodens und gewinnen durch die Installation lediglich an gespielter Leichtigkeit. Mit der offensichtlichen Aufforderung zur Bewegung beim Betrachten verschieben sich die Linien immerzu und wachsen trotz ihrer unveränderten Getrenntheit zusammen zu einer nie definitiven, flexiblen Zeichnung im Raum. Die Spannung, unter der sie stets standen, entlädt sich zu beiden Seiten in den Raum und lässt nun anstatt eines hier typischen Kreislaufs in ihrer Dekontextualisierung und Zweckentfremdung des Gegenstands einen Anfang und ein Ende vermuten. Mit dem Titel Director’s Cut referenziert der Künstler einen Begriff der Kinematografie und schreibt so dem abgeschalteten Objekt ein zusätzliches, zeitliches Moment zu, das mittels Transformation hervortritt. Heraus sticht das Prozessuale, ein zentrales Merkmal innerhalb des gesamten Werks von Philipp Hänger, der ein grosses Archiv an Dingen und Materialien besitzt. Dieses ordnet er fortlaufend neu und verbindet seine Teile – eben nicht linear einer einzigen Laufbahn folgend, sondern nach allen Seiten denkend, ein Netzwerk formend.

Eric Hattan G 2020
Eric Hattan, So eine Umordnung, 1992 / 2020. Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2020. Foto: Gina Folly

Blickt man auf das vielschichtige und seit Jahrzehnten gewachsene Werk des Künstlers Eric Hattan (*1955), müsste man wohl beim Versuch scheitern, ihn auf Materialien oder Gattungen festlegen zu wollen. Videos, Zeichnungen, Skulpturen und Installationen aus Fundmaterialien – handgross oder ganze Häuser einnehmend, Eingriffe in das private, traute Heim oder auch öffentliche Räume ebenso wie selbst gegründete Institutionen. Doch das eigentliche Material, mit dem Hattan arbeitet, sind Freiräume aller Art, die er aufspürt und gestaltet. Gleich einem Stadtflaneur — oder sollte man besser den Begriff des Raumflaneurs erfinden? — bewegt sich Hattan vor allem sehend durch die Welt. Er greift auf, sammelt ein, verändert, fügt hinzu, lässt weg. Die Eingriffe können grosse Gesten oder gar subtile, kaum wahrnehmbare »Umordnungen« sein, die zugleich als kühn-humorvoll, aber auch präzise-kritisch vor allem diejenigen herausfordern, die mit diesen Neuauslagen konfrontiert werden. So ist es denn auch konsequent, dass Hattan am liebsten nicht einfach eines seiner Werke in eine Ausstellung gibt, sondern — wie im Fall seines Beitrags für das Kunsthaus Baselland — Anleitungen konzipiert, die nicht allein seinen jeweiligen Werkbeitrag definieren, sondern vor allem das Gegenüber zur Handlung aktivieren. Eine dialogische Handlungsanweisung sozusagen, die das Freiräumen an einer Stelle, die Gestaltung an einer anderen Stelle, vor allem aber ein Umdenken im Gesamtem einfordert. Hattan ist als Anwesender und Gestalter am jeweiligen Ort und lotet nicht zuletzt die möglichen Grenzen dabei aus, architektonisch aber auch mental. Vor allem ist er aber — lässt man sich darauf ein – ein kreativer Fährtensucher, mit dem zusammen neue Perspektiven und Blickwinkel in alten Gefügen möglich werden.

Matthias Liechti G 2020
Matthias Liechti, Holes, Blanks, Ways Out, 2020. Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2020. Foto: Gina Folly

Ein gängiges Garagentor in der Schweiz misst exakt 2,5 auf 2,125 Meter. Vier identisch grosse Flächen, die den beschriebenen Massen ähneln, reihen sich auf einer Wand nebeneinander. Jedes ist in sich formal abgeschlossen und erzeugt dennoch als Ganzes eine Konformität, die an eine Wohnsiedlung erinnern lässt — ist dieser geschützte Raum für das eigene Auto doch offenbar untrennbar mit dem dazugehörigen Einfamilienhaus verbunden. Matthias Liechti (*1988) installiert die vertikal von unten nach oben verlaufenden Buchstaben E-X-I-T auf rotem Grund, flach auf die Wand. Durch ihre unzähligen Wiederholungen gehen sie in ein durchgängiges Muster auf, das alle Tore — auch horizontal — miteinander verbindet. Zugleich verliert durch feine Eingriffe in die Textrichtung und die Vervielfältigung der Versalien ein kollektives Zeichen seine Aussage. Die Deutung der einst allgemein verständlichen Sprache wird hinfällig und legt sich als Ornament über den Ort, auf welchen sie sonst lediglich aufmerksam macht. Holes, Blanks, Ways Out – die drei im Titel enthaltenen Worte verweisen alle auf eine Abwesenheit. Ein (Frei-)Raum, der ein Zurückziehen, Hineinfallen, Ausfüllen oder Hinausgehen zulässt. Vor allem aber beschreibt die Aufzählung Schwellensituationen, die uns mit einem Schritt vom privaten in den öffentlichen oder vom vertrauten in den unbekannten Raum und umgekehrt katapultieren. Diese Übertritte sind jeweils mit Erwartungen an ein bestimmtes Verhalten gekoppelt. Der Künstler rückt die Normen und Konventionen in den Fokus, die unser Sehen, Verhalten und besonders unser Denken lenken.

Celine Manz G 2020
Céline Manz, Die Rede, 2019/2020 / fold; Simulationisms – Limited Edition, 2017-2019. Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2020. Foto: Gina Folly

Es fällt seit Langem auf: Die Rezeption vieler Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts läuft zumeist über ihre Biografien, die in allen Facetten und Einzelheiten wiedergegeben werden — gefärbt vom jeweiligen Zeitgeist. Bisweilen scheinen sie sich vor eine dezidierte Rezeption des eigentlichen Werks zu schieben. Auch für andere Jahrhunderte mag das zutreffen. Die Künstlerin Céline Manz (*1981) geht eben jener Frage nach den sich wandelnden Formen der Rezeption, Interpretation und Reaktivierung von Künstlerinnen nach, im Speziellen von Sophie Taeuber-Arp, Meret Oppenheim und Sonja Delaunay-Terk. Immer wieder galt und gilt es diese Künstlerinnen sowie ihr Werk in den letzten Jahren neu zu entdecken. Welche Rolle spielt bei diesen Werkauslagen die Interdisziplinarität der Künstlerin, welche der Zugang zum jeweiligen Nachlass? Und wie ist dieser zugänglich und in welchen Teilen? Im Raum hängend — fahnengleich — versieht die Künstlerin in ihrer Werkserie fold; Simulationisms – Limited Edition, die sowohl als Installation wie auch als Travelling Edition fungieren kann, grosse Tücher mit digital veränderten Sujets von Architekturzeichnungen, Gemälden und Textilentwürfen von Taeuber-Arp. Ebenfalls auf Recherche basierend und in Absprache mit der heutigen Nachlass- und Urheberrechtsinhaberin präsentiert Manz eine Dankesrede von Oppenheim, die sie anlässlich des Basler Kunstpreises hielt. Darin äussert die Künstlerin, dass eine Vielzahl von Männern immer noch Frauen den «schöpferischen Geist» absprechen würden. Indem Manz diese Rede als gratis erhältliche Edition nachdruckt, wird sie flugblattgleich nach aussen getragen – und mit ihr der Nachhall ins Heute. Wie werden Künstlerinnen heute im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen rezipiert und wertgeschätzt?

Anina Müller G 2020
Anina Müller, Ich bin ruhig, 2019. Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2020. Foto: Gina Folly

Mehrere Stimmen überlagern sich, werden bedrohlich laut, verstummen unerwartet und ertönen erneut. Textfragmente wie „I’m addicted to you, you’re addicted to me“, spricht Anina Müller in einem 15-minütigen Loop, in dem sie Lyrics von Love Songs nutzt. In ihrer Abfolge und Wiederholung erinnern die Fragmente an einen inneren Monolog, der unzählige Versuche unternimmt, Beziehungen und das Gefühl der Liebe zu beschreiben. Und doch scheinen sich die Worte im Kreis zu drehen und in der Absurdität zu verlieren. Sprache, die als Mittel der Kommunikation Klarheit und Verständlichkeit schaffen soll, gerät an die Grenzen der Explizität – ein Verweis auf fehlende Ausdrucksfähigkeiten. Wie spricht man über Liebe, ohne die gängigen Klischees zu bedienen? Aus einem Gratis-Dispenser können sich Besucher*innen zeitungsähnliche Magazine mit der Aufschrift Ich bin ruhig herausnehmen. Von gesammelten Singleannoncen löst die Künstlerin einzelne bedeutungsträchtige Worte und Satzstücke heraus, die sie neu anordnet. „Treue“, „Vertrauen“, „Lüge“, „Betrug“ – instinktiv geschieht eine Einteilung in gewünschtes respektive nicht gewünschtes Verhalten. Erwartungen und Wünsche, wie viele Suchende sie als Imagination einer glücklichen Beziehung hüten, werden durch die repetitive Präsentation auf ihre Aktualität überprüft.

Alexandra Navratil G 2020
Alexandra Navratil, Under Saturn (Act 3), 2018 / Phantom (1), 2014. Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2020. Foto: Gina Folly

Bildarchive sind die eigentliche Fundgrube für das künstlerische Schaffen von Alexandra Navratil (*1978) — historisch wie zeitgenössisch. Darunter sind Fotografien aus Mikro- oder Makrobereichen, Wissenschaftliches ebenso wie eigene oder fremde Aufnahmen von leeren Mega-Shoppingmalls oder aber auch Ausschnitte aus Fachzeitschriften für die Kunststoffindustrie. Aus dieser Fülle hat sich die Künstlerin eine grosse Bildersammlung aus Filmen, Videos und Fotografien angelegt, um einem nachzuspüren: wie unsere Wahrnehmung funktioniert, wie sie sich verändert, und welche Technologien uns in unserem Wahrnehmen begleiten respektive beeinflussen. So verführt denn auch ihr Under Saturn (Act 3) mit hochtechnisierten und zugleich vermeintlich gefühlsaufgeladenen Bildern. Die gesammelten und überlagerten Werbebilder — entnommen von Broschüren verschiedener Unternehmen aus der Robotikbranche — erzeugen zusammen mit einer vertrauenerweckenden Stimme eine träumerisch-beängstigende Melange. Erzählt die Stimme nicht von Nahtoderfahrungen? Wo bleibt der Mensch aus Haut und Knochen?
Auch das Video Phantom (1) gibt einen Blick in einen menschenleeren Elektronik-Megastore preis. Im Loop wiederholen sich auf den hintereinander gestaffelten Bildschirmen bildstarke Naturphänomene auf Hochglanz. Der Titel bezieht sich auf eine gleichnamige Hochgeschwindigkeitskamera, die alles zwischen einem und 1000 fps registriert und von anonymen Machern oft für generische und extreme Zeitlupenaufnahmen verwendet wird. Präsenz und Absenz sind denn auch Themen, die das Schaffen von Alexandra Navratil prägen. In der Reduktion und zugleich mit einer grossen Bildwucht gelingt es ihr immer wieder, Nähe und Distanz zum Gegenüber zu erzeugen und uns im Sehen und Sein zu konfrontieren.

Janvan Oordt G 2020
Jan van Oordt, Spoiled, 2020. Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2020. Foto: Gina Folly

Mit der Anordnung der als «Container» fungierenden Displays Mkv III–VI erhält der Kabinettraum einen neuen Rhythmus, der als raumgreifende Assemblage verstanden werden kann. Über die Platzierung im Raum ergeben die aus gefundenen Baumaterialien gefertigten Elemente eine eigene Geografie und leiten das Publikum bewusst im Hindurchgehen. Jan van Oordt (*1980) ermöglicht dadurch die Erfahrung von situierten Bedeutungsüberlagerungen, welche die einzelnen Arbeiten zueinander in Beziehung setzen. Die Dekontextualisierung, die seinem Material- und Formenfundus widerfährt, richtet so Verknüpfungen zu unbekannten Umgebungen ein. In einer Ecksituation begegnen sich zwei rotierende Diaprojektionen aus Sammlungen jeweils formal ähnlicher Motive. Wasser im Wasser zeigt unterschiedliche Eingänge zu Tierbehausungen. Sie gemahnen an Orte und Subjektivitäten, die dem Menschlichen unzugänglich bleiben. Ihnen wohnt, gleichsam wie den von Händen berührten Gegenständen in You, eine fragile Verbindung inne, die unzählige (Deutungs-)Zugänge ermöglicht.Die Schwelle entwickelt sich als wiederkehrendes Moment und zieht einen gedanklichen Strang durch den gesamten Raum des Künstlers. Stets einen Ort im Dazwischen beschreibend, beinhaltet sie ein ständiges Öffnen und Schliessen, eine Beziehung von innen nach aussen und umgekehrt sowie häufig eine Schnittstelle zwischen Privatem und Öffentlichem. Jan van Oordt übersetzt dieses Interesse an Übergängen wie Höhlen, Berührungen, Tierverwandlungen oder Waldrändern in eine räumliche Installation. Die Betrachter*innen lässt er zeitweise von verschiedenen Plateaus in Bedeutungszusammenhänge eintreten, wobei er nie eine definitive Abgeschlossenheit in der Deutung der Dinge erreichen möchte.

Jacob Ott G 2020
Jacob Ott, B7, 2020 / Im Grenzgebiet zwischen Luft und Speise Röhre, 2020. Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2020. Foto: Gina Folly

Jacob Ott (*1992) realisiert zwei ortsspezifische Arbeiten, die sich unmittelbar auf die architektonischen Begebenheiten des Kunsthaus Baselland beziehen. Den vorgegebenen Durchgang im Erdgeschoss schliesst der Künstler mit einem knapp drei Meter breiten Band auf Sichthöhe und gibt Besucher*innen gezielt eine neue Laufrichtung vor. Bei genauerem Hinsehen wird erkennbar, dass es sich bei der Linienführung um überproportional grosse, aneinandergereihte Brezeln handelt. Eine symbolträchtige Form, die dem Ursprung ihrer Bezeichnung (von lat. brachium – Arm) zufolge an verschlungene Arme erinnern soll. Dank der Aussparungen, die das wiederholte Motiv vorgibt, wird der Blick in den Hintergrund nicht verwehrt, sondern lässt diesen als Bestandteil des ornamentalen Bildes agieren sowie Licht durch die einst als Fastenspeise üblichen Brezeln scheinen. In ihrer Gesamtheit können sie sich je nach Blickwinkel von einem Symbol der Enthaltsamkeit zu einer dekorativen Schleife entwickeln, was eine Verkehrung der Bedeutungsebene zur Folge hätte. Durch die subtile Intervention auf der dahinterliegenden Wand verweist der Künstler erneut auf die Architektur und beeinflusst bewusst deren Wahrnehmung im Raum. Eine abgeknickte Leuchtstoffröhre läuft von der Decke ein Stück die Wand hinunter, wodurch auch der bestehenden Beleuchtung ein Objektcharakter zuteil wird. Die Decke fungiert folglich, wie auch das frei stehende Wandmodul, als Display — die Architektur selbst wird zur Installation. Die Zuschreibung der jeweils anderen Funktion rückt Gewohntes in den Fokus und erzeugt zugleich eine Erschütterung der räumlichen Grundsätze, ähnlich dem eintretenden Verschlucken Im Grenzgebiet zwischen Luft und Speise Röhre.

Nina Rieben G 2020 1
Nina Rieben, Romance might be a competence, 2020. Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2020. Foto: Gina Folly

Weisse, leere Flächen. Leerstellen, die im abgedunkelten und zugleich hell erleuchteten Raum wie Platzhalter für Unausgesprochenes, für mögliche Worte und Texte, erscheinen. Auf grossformatigen Fotografien der Künstlerin Nina Rieben (*1992) heben sich die Rechtecke vor Sonnenuntergangssituationen ab. Eingefangen durch eine Reflexion auf einer Fensterscheibe, verkomplizieren sie das Verhältnis von innen und aussen — von Nähe und Distanz. Auf dem Boden verteilt findet sich unter dem Titel Romance might be a competence Laub, welches subtil auf die kargen Bäume ausserhalb der Fensterfront und auf die Nachricht auf einem Handydisplay verweist. Adressiert an eine unbekannte Person, erzählt my dear (Trennungskompetenz) vom mühelosen »Loslassen« der Blätter von herbstlichen Bäumen. Mit dieser jährlich wiederkehrenden Trennung geht eine Veränderung der natürlichen Lichtverhältnisse einher, die mitunter zu vermeintlich romantischen Momenten im Herbst beiträgt.Einige der Blätter versieht die Künstlerin mit einer eigens entwickelten verschlüsselten Schrift. Die Besucher*innen können den Code der losen Zeichen nicht entziffern. Doch ist es nicht beabsichtigt, dass sie die Auflösung finden, sondern vielmehr sollen sie eine Begrenztheit der Explizität von Sprache erkennen. Dazu negiert ein fragiles, kerzenartiges Objekt ein Anzünden und agiert eher als Andachtssymbol für das Pessimistische. Die zuvor erfahrenen Lichtverhältnisse werden im Nebenraum umgekehrt. Fenster, die verdunkelt waren, sind jetzt beleuchtet und bewirken durch das ansonsten ausbleibende Licht eine veränderte Wahrnehmung. In einer präzisen Gegenüberstellung lotet Nina Rieben Situationen von hell und dunkel, Licht und Schatten aus. Diese sind gesellschaftlich und sprachlich derart konnotiert, dass häufig mit dem einen das Positive, Fröhliche einhergeht, mit dem anderen etwas Melancholisches und Trübes. Dabei lässt die Künstlerin stets Raum für eine fiktive Narration und befragt durch das bewusste Kippen der Relationen die Ästhetik von Poesie und Sentimentalität auf ihren klischeehaften Charakter.

Anna Schwehr G 2020
Anna Schwehr, Verbeugen üben, 2020. Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2020. Foto: Gina Folly

Mit dem leichten Absenken des Oberkörpers geht eine dankende Verneigung nach erfolgter Arbeit einher. Die raumgreifende Installation Verbeugen üben von Anna Schwehr (*1992) referenziert jedoch vielmehr auf die Momente vor der Verbeugung. Es scheint, als könne hier unmittelbar mit dem Training begonnen werden. Doch kleine Details wie die als Matten getarnte Leinwände lassen darauf schliessen, dass die Elemente nur vorgeben, dass etwas Essenzielles fehlt: der Körper, der sich in Form bringt. Die Metallkonstruktion zeichnet ein Diagramm, dessen Höhen und Breiten sich durch von der Künstlerin festgelegte Gesetzmässigkeiten ergeben. Ausschlag-gebend sind neben physischen (Körper-)Massen von ihr erbrachte Leistungen — auch solche, die das Nichtstun beschreiben. Im Nebeneinander zeichnen sie eine Dynamik, welche die Ökonomie einer individuellen Fitness aufzeigt. Bronzebüsten von Karl Marx und Lenin schmilzt Anna Schwehr ein und transformiert sie in Hanteln, die von der alleinigen Erinnerung an zwei historische Personen zu einer Möglichkeit körperlichen Ertüchtigung wechselt. Dem mit Ironie begegneten Ziel des Fit-Werdens schliesst sich eine Infragestellung des Konformismus an, der in der deutschen Übersetzung „(an-)passen“ vom Englischen „(to) fit“ steckt. Dazu verbreiten die Ansagen eines Kommentators von Pferderennen Rastlosigkeit im Raum. Die Videoarbeit zeigt schnell geschnittene Abbildungen von Reiterstandbildern, die miteinander in Wettstreit geraten. Während die versteinerten Bronzestatuen anonymisiert auftreten, bestreiten sie paradoxerweise — trotz ihrer Unbeweglichkeit durch die Stimme aus dem Off ein Rennen. Das Kräftemessen erfährt eine humorvolle Verweigerung und lenkt den Blick auf solidarischere Formen des Umgangs.

Flurina Sokoll G 2020
Flurina Sokoll, Tête-a-tête, 2019. Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2020. Foto: Gina Folly

Eine Kurzlebigkeit richtet sich besonders im Materiellen ein. Viele alltäglichen Dinge besitzen schon durch ihre Art der Produktion einen nicht beständigen Charakter und fördern so einen anhaltenden Konsum. In diesem Überfluss finden solche ungenutzten Gegenstände zu Flurina Sokoll (*1986). Mit einer Einleitung in den Raum beginnt die Arbeit Tête-a-tête. Um eine Ecke stehen sich hier zwei Stuhlgestelle gegenüber, verbunden durch eine einzige Holzplatte. Über einer Lehne liegt ein dunkler Mantel – ein Geschenk an die Künstlerin. Diese Schwere ausgleichend thront auf der anderen Seite eine weisse Glaskugel. Einige Schritte weiter wurde ein Heizkörper vor einem netzartigen, weissen Vorhang installiert, darauf ein aus Stoffen, einem Gürtel und einer Metallmuschel figurativ anmutendes Objekt. Grosse Veränderungen erfahren die einzelnen Dinge durch die Künstlerin nicht. Ihre vielschichtigen Bedeutungsebenen entstehen vielmehr durch die Anordnung in bestimmten Konstellationen. Diese Verbindungen sind nicht definitiv, sondern können im Verstreichen von Zeit immer neue Kombinationen erfahren. Für Coffee & Milkdient ein umfunktionierter Bettrahmen aus Metall als Auflage für eine abgenutzte Tischplatte, darauf ein Kissenbezug mit Kaffeefleck und eine Vase. Die hellsandig bemalte Wandfläche und mehrere Fussabtreter schaffen ein räumliches Setting, welches sich im Vorbeigehen verschiebt und so erneut die Assoziation eines Stilllebens entkräftet. Fragmente aus unterschiedlichsten Kontexten finden durch Flurina Sokoll zusammen. Sie bringen jeweils eine ihnen inne liegende Geschichte mit, die jedoch im Arrangement in den Hintergrund rückt und die formalen wie materiellen Eigenschaften fokussiert.

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Romain Tièche, Indolore, Endolori, 2019. Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2020. Foto: Pati Grabowicz

Der Einfluss der Technologie auf den Menschen und das damit verbundene Wissen sowie die resultierende Ästhetik sind zentrale Themen für Romain Tièche (*1982). Auf zwei grossflächigen Bildschirmen treten Betrachter*innen die Begriffe «Indolore» und das Gegenteilige «Endolori» gegenüber, was in der deutschen Übersetzung ‚schmerzlos‘ und ‚schmerzhaft‘ meint. Tièche spielt in dieser Installation mit der Gleichzeitigkeit von Antonymen und Anagrammen, denn nur durch das Austauschen der ersten und letzten Buchstaben ergibt sich das jeweils gegensätzliche andere Wort. Dieses Phänomen ist in der französischen Sprache einzigartig. Während eines kurzen Moments der subliminalen Wahrnehmung – ausgelöst durch ein Verwackeln des Videos – schiebt sich ein neues Bild zwischen die Buchstaben und löst die Anagramme auf. Dieser Augenblick wiederholt sich kontinuierlich, bis sich die beiden Begriffe überlagern und die Positionen tauschen. Der Künstler bedient sich einer Methode des Marketings, durch die die Konsument*innen unterbewusst beeinflusst werden. Die ausdrucksvolle Ästhetik der schwarzen Versalien auf weissem Hintergrund sind den Hinweisen nachempfunden, die sich auf Zigarettenpackungen finden und paradoxerweise vor dem eigenen Produkt warnen. Indolore, Endolori spiegelt so die Perversität der Propaganda zwischen Produktionszustimmung und Unterlassungsanordnung, die in jenen Marketingtechniken verkörpert sind.

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Johannes Willi, The Racing Agency, 2020. Foto: Anina Müller

Unter dem Titel The Racing Agency lädt Johannes Willi (*1983) zum sonntäglichen Velofahren. Gemeinsam mit den Teilnehmer*innen besucht er auf den Touren Ausstellungen umliegender Kunstinstitutionen. Als verbindendes Element gestaltete der Künstler ein Radsport-Outfit, welches die Gruppe als flexibles Bild in die Dreiländerregion trägt. Ausgehend vom Kunsthaus Baselland besteht das Design der Kleidung aus Raumansichten des leeren Ausstellungsgebäudes, die mögliche Standorte für Werke zeigen. Diese architektonischen Fragmente collagieren sich rund um die Körper der Radfahrer*innen. Sie selbst werden zum Display, tragen den bestehenden White Cube in neue Kontexte und machen alles, was sich im Umfeld befindet, für kurze Zeit zu ihrem Hintergrund. Zeitgleich eröffnet das lose Gefüge, das sich erlebte Distanzen und durchquerte Landschaften aneignet, einen beweglichen Ausstellungsraum, der mit Gedanken und Gesprächen gefüllt wird. Besonders in der gegenwärtigen Zeit dient es nicht nur dem Künstler selbst als Möglichkeit, abseits von architektonischen Begrenzungen — die hier zu flexiblen Strukturen auf der Kleidung transformiert sind — neue Ideen zu entwickeln, sondern führt auch vor Augen, wie unabdingbar die Aufrechterhaltung des physischen Austauschs ist. Willi, der vor einiger Zeit den Velo-Club mit dem Namen VC Madonna gründete, führt das Kunsthaus in die Region und besucht zusammen mit den Mitfahrenden neue Innenräume, was eine kontinuierliche Verschränkung von innen und aussen bewirkt. Für Aussenstehende kann sich die Equipe zugleich als Radsport-Team, Ausstellungsbesucher*innen, Kulturbotschafter*innen, Display oder nicht zuletzt ein lebendes, bewegtes Kunstwerk selbst darstellen.

Loosli Wohlhause G 2020
Raphael Loosli & Arnaud Wohlhauser, The magic is still there but the sex is terrible, 2016 / 2020. Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2020. Foto: Gina Folly

Im Halbdunkeln des letzten Ausstellungsraums treffen Besucher*innen auf eine geschlossene Gefriertruhe. Mithilfe des Griffs kann sie geöffnet und wieder geschlossen werden. Die Truhe ist komplett mit gefrorenem Wasser gefüllt. Beim Öffnen wird die Eisfläche durch die geräteeigene Lampe an der Innenseite des Deckels dezent beleuchtet. Im Moment der Ausstellung zeigt das Innere das Resultat der Vereisung — ein »Ritual«, das Raphael Loosli & Arnaud Wohlhauser (*1980/1992) im Januar 2016 zum ersten Mal durchgeführt haben. Für kurze Zeit — die Dauer einer Ausstellung – schaffen die Künstler eine performative Neuanordnung dieser gängigen Satrap-Gefriertruhe. Das kontinuierliche Surren des mechanischen Haushaltsgeräts widerspiegelt die zu leistende Arbeit. Die Setzung der Gefriertruhe im Kunsthaus Baselland vermag eine beklemmende Unsicherheit bei Besucher*innen hervorrufen, ins Innere vorzudringen. Im Titel the magic is still there but the sex is terrible — eine Anspielung an einen amerikanischen Cartoon – steckt das zerbrechliche Gleichgewicht einer Beziehung, welches sich sowohl auf gemeinsame Rituale als auch auf Verhältnisse von Künstler, Raum und Besucher*innen übertragen lässt.

Olga Zimmelova G 2020
Olga Zimmelova, In cuore sento il pazzo volo di un’ape regina, 2019. Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2020. Foto: Gina Folly

Hauchdünne, übereinander gelagerte Pinselstriche lassen eine dichte, vielschichtige Malerei entstehen, ein Pinselstrichbild, das — direkt an der Wand angebracht — den Ausstellungsraum im Kunsthaus Baselland rhythmisiert. Die weissen, beinahe transparenten Pinselstriche über hellblauem Grund wirken kühlend. Olga Zimmelova bezieht sich dabei auf die Temperaturregulierung von Bienen innerhalb des Stocks, wo die Insekten bei hohen Temperaturen mit ihren Flügeln über den Waben vibrieren, um eine kühlende Wirkung zu erzeugen. Eine dunkle Schwere am unteren Bildrand bezieht sich wiederum auf die Entstehung von neuem Leben in der Wabe. Räumlich zur Malerei in Beziehung gebracht sind fünf Bienenwabenobjekte, in denen sich das Artefakt, der von der Künstlerin mit Pinselstrichen und Textzitaten präparierte Imkerrahmen, mit der von den Bienen erzeugten Wabe verbindet. Die Malerei und die Zitate, darunter der Satz „Non andar nudo a torre a l’api il mele“ („Gehe nicht nackt den Bienen den Honig nehmen“, Giordano Bruno) sind von den Waben unterschiedlich dicht bedeckt und nur teilweise zu sehen. Pinselstrichbild und Objekte wecken Assoziationen, Deutungen und Wahrnehmungen und verhandeln die Biene im kulturhistorischen Geschehen.